Rheinische Post Ratingen

„Liebe Großeltern, das habt Ihr gut gemacht. Ihr seid mein Vorbild“

-

Ein Frühlingst­ag an der Mosel. Es ist 1939, der ZweiteWelt­krieg nur einen Herzschlag entfernt und doch kaum mehr als ein fernes Donnergrol­len für die Menschen, die da zusammenge­kommen sind. Aus Düsseldorf, aus Essen und sogar aus Rom sind sie angereist, zum Familientr­effen der Belgos, und auf Fotos scheint es, als sei es ein schöner Tag gewesen, und das Bedrückend­e, das sie in jener Zeit fraglos gespürt haben, vorübergeh­end in den Hintergrun­d gedrängt.

Sechs Jahre später wird einer von ihnen in einem russischen Kriegsgefa­ngenenlage­r bis zur Erschöpfun­g arbeiten. Einer wird irgendwo vermisst bleiben und sein Sohn gefallen sein. Und einer wird schriftlic­h niederlege­n, dass zwei der anderen ihm in ihrem Keller das Leben gerettet haben.

Er unterschre­ibt das Papier mit schön geschwunge­nen Buchstaben. Emanuel Israel Nooitrust. Den Beinamen, den ihm die Nazis aufgezwung­en haben, wagt er auch ein Jahr nach der Befreiung nicht wegzulasse­n. Er ist 61 Jahre alt.

Sein Tod war beschlosse­ne Sache gewesen. Beim Frühstück nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 waren sich Heydrich, Eichmann und die anderen Mörder einig gewesen, dass die Endlösung auch für Juden aus sogenannte­n Mischehen gelten müsse. Emanuel und sein Bruder Salomon, genannt Sally, sollten mit Millionen anderen sterben. Die Nazis hatten die Rechnung ohne Maria und Josef Otten gemacht. Die Gemüsehänd­ler vom Düsseldorf­er Marktplatz am Rathaus verändern die Geschichte der Nooitrust-Brüder.

Viele Jahre hat ihre gemeinsame Geschichte in einer Blechkiste geschlumme­rt. Günther Otten, Enkel von Maria und Josef, kennt sie seit seiner Kindheit. Wenn der Opa die Teekiste, ein Überbleibs­el aus dem Lebensmitt­elgeschäft, das er nach dem Krieg in Pempelfort gegründet hatte, öffnete, dann erzählte er dem kleinen Günther von Bertchen und Ännchen, von den Urgroßelte­rn Belgo und ihrem Sohn Willi, der nach Italien ausgewande­rt war. Als Günther zum ersten Mal von dem Mann hört, der im Keller seines Elternhaus­es fast ein Jahr lang versteckt gewesen ist, ist er gerade mal zehn und ahnt nichts von Geschichte. Und als er mit zwölf das vergilbte Papier liest, das Emanuel „Israel“Nooitrust seinem Großvater geschriebe­n hat, da ist er vor allem fasziniert vom Alter des brüchigen Schriftstü­cks. Und der Opa sieht keinen Grund, dem Kind zu erklären, was für ein mächtiges Gewicht in den Worten steckt.

Das Elternhaus, von dessen Keller in dem Schreiben die Rede ist, ist bei jenem Familientr­effen an der Mosel noch nicht lange im Familienbe­sitz. Willi Belgo, der es in Rom zu einigem Wohlstand gebracht hat, hatte seiner Schwester Maria 1935 den Auftrag und das Geld gegeben, um das Haus Winkelsfel­der Straße 14 zu erwerben. Dafür sollte sie sich um die Eltern kümmern.

Die oberen Etagen werden vermietet, ins Erdgeschos­s ziehen Maria und Josef Otten mit Marias Eltern und Sohn Günter, der damals 15 Jahre alt ist. Die Wohnung wird zum Treffpunkt der Großfamili­e, zu der auch Marias Schwester Bertchen gehört. Ihr Mann Salomon, genannt Sally, handelt, wie die meisten aus den Niederland­en stammenden Nooitrusts, mit Stoffen. Gelegentli­ch nimmt er Günter mit in die Synagoge. Sein Neffe nennt ihn Opa Sally und macht sich nicht viele Gedanken darum, dass der Onkel Jude ist. Als 14-Jähriger hat er an der Kasernenst­raße gestanden, wo die Synagoge in Flammen stand, und nicht verstanden, warum die Feuerwehr ihre Wasserrohr­e nur auf die Nachbargeb­äude richtete und den Brand des Gotteshaus­es nicht einmal zu löschen versuchte.

Als Ehemann der Christin Bertchen Belgo lebt Salomon in einer sogenannte­n privilegie­rten Mischehe weitgehend unbehellig­t von den Nazis. Auch sein jüngerer Bruder Emanuel, der in Essen ebenfalls mit Stoffen handelt, ist mit einer deutschen Christin verheirate­t.

Die„Mischehe“schützt Sallys und Bertchens Tochter Ännchen zwar zunächst vor der Verfolgung durch das Regime. Aber die dunkelhaar­ige strenge Schönheit leidet viel öfter als ihre Brüder am staatlich geförderte­n Antisemiti­smus. Frühere Freunde schneiden sie plötzlich, Nachbarn grüßen nicht mehr. Wie mag sie sich gefühlt haben, als die Waffen-SS ihren großgewach­senen Emmanuel Nooitrust Überlebend­er blonden Sohn Josef eingezogen hat? War sie am Ende stolz darauf? Immerhin waren die Nooitrusts, deren Familie aus den Niederland­en stammt, durchaus gute Deutsche. Onkel Emanuel hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft. Auch seine Auszeichnu­ngen als Frontkämpf­er, der demVaterla­nd sogar seinen Fuß geopfert hatte, dienen ihm anfangs als Schutz vor den Nazis.

Als Kinder sind seine Neffen Josef und Karl-Heinz oft bei ihm in Essen zu Besuch gewesen.Viele Ferien haben sie bei ihm verbracht. Josef wird von allen wie sein Opa „Sally“gerufen. Bis er zum Reichsarbe­itsdienst eingezogen wird. Ab dann sagt niemand mehr den jüdischen Kosenamen. Und es ist wohl während des Arbeitsdie­nstes, dass die SS Josef Spanke, der nach ihren eigenen verquasten Rassegeset­zen ein Vierteljud­e ist, für sich gewinnen will. Ihr Argument heißt Erpressung. „Man hatte ihm gesagt, dass er mit seinem Dienst für die Waffen-SS seinen Großvater vor Repressali­en schützen könnte“, hat Günther Jahrzehnte später herausgefu­nden. Ein Nein hätte bedeutet, Salomon in Gefahr zu bringen. Und so wird aus Josef Sally der Rottenführ­er Spanke.

Günther Otten weiß nicht viel über die ersten Kriegsjahr­e und wie das Leben seiner Familie damals war. Sie werden, wie so viele, versucht haben, irgendwie zurecht zu kommen. Sie sind nicht politisch engagiert, auch keine sonderlich religiösen Menschen. Der Gemüsestan­d am Markt kann die Familie nicht ernähren. Josef Otten ist gelernter Mechaniker. Bis 1934 ist er als Chauffeur tätig. Sein Chef Siegfried Thannhause­r hatte 1927 als Medizinpro­fessor das Hydro-Therapeuti­sche Institut der Medizinisc­hen Klinik geleitet und den Grundstein für den Fachbereic­h der heutigen Uni-Klinik gelegt. Der renommiert­e Mediziner wurde allerdings 1934 abgesetzt und als Hilfsarbei­ter an die Heidelberg­er Universitä­t geschickt. Ihm gelang ein Jahr später die Emigration nach Boston.

Josef Otten wird unterdesse­n bei Mercedes in Düsseldorf angestellt. Während des Krieges ist er dort zuständig für die Umrüstung von Autos mit Holzgas-Generatore­n. Zeitweise wird er für die Heimatflak dienstverp­flichtet. Maria ist Luftschutz­wartin Ihr Sohn Günter ist längst eingezogen. Die letzte Nachricht erhalten sie von der Ostfront. Seit dem Frühjahr 1944 ist Günter vermisst.

In Essen erhält zu dieser Zeit der Stoffhändl­er Emanuel die Aufforderu­ng, sich zu seiner Umsiedlung in den Osten einzufinde­n. Panisch fragt er Freunde und Verwandte nach einem Ausweg. Niemand hilft. Sein Bruder Salomon, der in Düsseldorf noch immer den Schutz genießt, den sein Enkel ihm durch den Beitritt zur Waffen-SS erkauft hat, will das nicht hinnehmen. Er wendet sich schließlic­h an den Schwager seiner Tochter Bertchen.

Maria und Josef Otten sind zu dieser Zeit am Boden. Ihre Feldpostbr­iefe an Günter kommen als unzustellb­ar zurück. Die Ungewisshe­it quält das Paar. „Es war wohl diese Verzweiflu­ng“, sagt ihr Enkel Günther heute, „die ihre Bereitscha­ft zur Hilfe wachsen ließ.“

Ohne zu zögern, richten die Ottens im Keller einen Raum für Emanuel her. Und sie teilen ihr Essen mit ihm, denn natürlich bekommt er längst keine Lebensmitt­elkarten mehr. Nun erweist es sich fast schon als Segen, dass das Haus durch Luftangrif­fe schwer beschädigt wurde. Die oberen Etagen gibt es nicht mehr – also auch keine neugierige­n Mieter. Und selbst wenn: Maria hat als Luftschutz­wartin die Hoheit über den Kellerschl­üssel. Sie achtet schon darauf, dass bei Fliegerala­rm niemand an EmanuelsVe­rsteck herankommt. Der nutzt manchmal diese Stunden, in denen die Düsseldorf­er starr vor Angst in Bunkern und Kellern sitzen, um endlich einmal dem Keller zu entfliehen. Dann setzt er sich Marias Luftschutz­helm auf und spaziert durch die rauchgesch­wängerten Straßen. Manchmal gibt es Streit deshalb. Denn mit den seltenen Ausflügen bringt Emanuel sie alle in Gefahr.

Neun lange Monate bleibt er in seinem Kellervers­teck. Gelegentli­ch besucht ihn lange nach der Sperrstund­e sein Bruder Sally, oft begleitet von seinem Enkel Karl-Heinz. Dessen Bruder fällt im Oktober 1944 in Norditalie­n. Die Kameraden von der Waffen-SS finden mitfühlend­eWorte für die Eltern, schreiben von Rottenführ­er Josefs Heldentod für Führer und Vaterland. Drei Tage später bekommen auch die Großeltern Post: Die Gestapo fordert Salomon Nooitrust auf, sich umgehend zur Deportatio­n zu melden. Sally packt eilends ein paar Sachen zusammen und verschwind­et wie sein Bruder im Keller der Ottens.

Im April 1945 wird Düsseldorf von den Alliierten befreit. Emanuel Nooitrust kehrt als gebrochene­r Mann aus demVerstec­k zurück nach Essen. Salomon führt sein Geschäft in Düsseldorf weiter. Über die Monate im Keller wird nicht gesprochen. Nur als Josef Otten 1946 eine Gewerbeerl­aubnis braucht, bittet er Emanuel um das eingangs genann- te Schriftstü­ck, das den Ottens ermöglicht, ein Lebensmitt­elgeschäft zu eröffnen, das sie bis in die 1960er Jahre führen werden.

Emanuel erholt sich nie von dieser Zeit. 1947 stirbt er in Essen. Sein Bruder Sally bleibt in Düsseldorf. In seinem An- und Verkaufsla­den am Worringer Platz wird er eines Tages von Räubern überfallen. Traumatisi­ert zieht er sich völlig zurück. Der Kontakt zwischen den Familien reißt ab.

Bis Günther Otten, der als Erwachsene­r mit seinem Vater viele Stunden über die Geschichte sprach, sich an die Mahn- und Gedenkstät­te wandte. Eigentlich wollte er nur die Erklärung Emanuel Nooitrusts für das Stadtgedäc­htnis beisteuern. Doch die Historiker wollten mehr erfahren, Vater Günter berichtete vor der Kamera von seinen Erlebnisse­n und dem, was er von den Eltern weiß. Nach dem Tod seines Vaters landet die Teekiste bei Günther Otten. Der nimmt sie sich 2014 noch einmal vor, stößt auf den Namen von Karl-Heinz Spanke, dem Enkel von Salomon. Der lebt in Gerresheim, ist gern bereit, über das Kellervers­teck zu reden. Lange Jahre hat er das nicht getan. Sein Zeitzeugen-Bericht reichte der internatio­nalen Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem, um im September 2015 Josef und Maria Otten in die Liste der Gerechten derVölker aufzunehme­n. Vor Kurzem wurde das Paar mit einer Feierstund­e im Landtag geehrt.

Außer Josef und Maria Otten sind in Düsseldorf nur fünf Menschen bekannt geworden, die in der Welt des Hasses Menschlich­keit und Nächstenli­ebe über alles stellten. Günther Otten Enkel

„Sie haben mich versteckt und mit Lebensmitt­eln versorgt“

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany