„Wir hatten nie Angst, dass es nicht funktionieren würde“
Wenn Ranne von den Anfängen der Kommune erzählt, steht da eine junge Frau, hochschwanger, an einem klammen Novembertag in Köln-Mülheim vor dem Tor zum Paradies. Das Gatter ist mit schwerer Kette verriegelt, dahinter ragen die dunklen Backsteingebäude einer verlassenen Schnapsfabrik aus derWildnis. Die Häuser sind baufällig, viele Fenster zugemauert, Brombeerranken überwuchern dieWege, auf allem ruht modernd das feuchte Laub, und in der jungen Frau steigt ein ungeahntes Glücksgefühl auf. „Ich hab’ damals gedacht: Wenn wir es schaffen, nur sechs Jahre zu bleiben, können meine Kinder in dieser Wildnis aufwachsen“, sagt Ranne.
Knapp 40 Jahre ist das her. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) gibt es noch immer. Sie ist eine der letzten Kommunen Deutschlands, die aus den politischen Impulsen der Studentenbewegung entstanden ist. Junge Leute wollten damals anders leben, arbeiten, wirtschaften. Sie wollten sich nicht den Gesetzen der Konsum- und Konkurrenzgesellschaft unterwerfen, sondern ein radikales Miteinander praktizieren. Ein Miteinander, das keine Verlierer produziert.
In der SSM lebten von Anfang an behinderte Menschen mit im Hof, funktionieren würde“, sagt Ranne, „bei uns sollte sich jeder einbringen dürfen, so gut er kann, das hat immer eine Balance ergeben.“
Wenn Rainer sich an die Anfänge 1979 erinnert, erzählt er von Räumungsbescheiden und Disziplinarverfahren, von Menschen im Rollstuhl aus der Nachbarschaft, die mit in die Kommune zogen, und am Ende dafür sorgten, dass der Sozialdezernent vor einer Räumung der besetzten Häuser zurückschreckte. Kein Politiker wollte Bilder verantworten, auf denen Menschen im Rollstuhl aus ihrem Zuhause geschoben wurden. „Die angeblich Schwachen haben uns stark gemacht – Behinderung hat sich als soziale Kraft erwiesen“, sagt Rainer, und ein Lächeln zieht über sein Gesicht. Später wird er noch mehr Geschichten erzählen, in denen gelebte Utopien die Wahrheiten der Besitzstandswahrer widerlegen.
In der wilden Studentenzeit hat Rainer Jura studiert, erst in Tübingen, München, dann in Köln. Dort hat er sich politisiert, hat für sozialen Wohnraum und gegen geheime Bundeswehrprojekte protestiert, Flugblätter verteilt und hatte bald so viele Strafverfahren am Hals, dass an die juristische Karriere nicht mehr zu denken war. „Ich stand kurz vor dem Referendariat, aber ich wusste, wenn du das jetzt machst, gerätst Ranne Mitgründerin der SSM gegen Klüngel gekämpft, Menschen integriert, die auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben.
Gerade soll in der direkten Nachbarschaft ein riesiger Innenhof bebaut werden, alte Garagen sollen verschwinden. Eine Nachbarin hat sich dort eine Schmiede eingerichtet, nun fürchtet sie um ihre Existenz. Die Kommune bietet jede Woche Sozialberatung an, wenn dort solche Dinge zur Sprache kommen, wird Rainer aktiv. Dann druckt er Flugblätter wie in alten Zeiten, mobilisiert die Nachbarschaft. „Das ist auch Teil unserer Arbeit“, sagt er.
Ihr Überleben sichert die Kommune durch Entrümpelungen, verkauft gut erhaltene Dinge aus den Wohnungsauflösungen im eigenen Laden und bei Ebay, vermietet Veranstaltungsräume auf dem Gelände, eine kleine Halle in der Nähe, ein paar Gästezimmer unter dem Dach. Das reicht, um allen Mitgliedern zwei Mal pro Woche 40 Euro auszuzahlen – für den privaten Verbrauch. Staatliche Hilfen wie Hartz IV nimmt in der Kommune niemand in Anspruch.
Fragt man Ranne, was sie zufrieden macht, sagt sie: „Mit 70 noch gebraucht zu werden.“Rainer sagt: „Beim Aufstehen zu wissen, dass man etwas Vernünftiges tun wird.“
Achim hat sich vor sieben Jahren in die SSM geflüchtet. Davor war er wegen eines Haftbefehls nach einer Schlägerei mit Neonazis abgetaucht, lebte zwölf Jahre auf der Straße. Eigentlich sei das eine gute Zeit gewesen, erzählt er, während er Essensreste von gestern aus einem Topf kratzt. „Ich bin mit einer Band rumgezogen, aber ich hatte halt die ganze Zeit Paranoia.“Um gebrauchte Schuhe zu kaufen, kam er in die SSM, fragte nach Arbeit, durfte bleiben. Und Rainer ging mit ihm die juristischen Probleme an.
Seit sieben Jahren gehört Achim nun fest zur Kommune. An diesem Tag hat er Büro- und Küchendienst. Vor acht Uhr hat er schon für 30 Personen eingekauft, jetzt schnibbelt er Gemüse, setzt Reis auf, und schimpft, wenn schon wieder das Telefon klingelt, während im Hof die Teams für die Wohnungsauflösungen noch rauchen, Kaffee trinken. „Ey, Euer Auftrag ist um neun“, ruft Achim aus dem Fenster.Verwirrung, wer mit wem auf welchem Lkw fährt, kurzes Rumgeschnauze, dann fahren die Teams los. Es wird ruhig in der Kommune.
Fragt man Rainer, was er bereut, sagt er: „Dass ich in keine Rentenkasse eingezahlt habe. Ich habe mein Leben für die Gesellschaft gearbeitet, aber die zahlt mir im Alter nichts zurück.“
Ein Foto aus den frühen 80er Jahren: Rainer mit langen Haaren auf einem selbst gebauten Lastenfahrrad mit lachenden Kindern auf der Ladefläche. Ranne und er sind als Paar in die Kommune gegangen, haben drei Kinder großgezogen, heute leben sie getrennt auf dem Gelände. „Ich hatte gedacht, dass es einfacher ist, in der Lebendigkeit einer Kommune als Paar zu leben“, sagt Ranne, „wir haben es nicht geschafft.“Doch als Frau mit Kindern gleichwertig in der Kommune mitzuarbeiten, das hat sie durchgesetzt. „Ich wollte mir nicht abends von Rainer erzählen lassen, wie aufregend sein Tag war“, sagt Ranne. Sie ist dann auch Lkw gefahren, arbeitet bis heute im Laden mit und pflegt den verwunschenen Garten im Innenhof. Es gibt ein paar Hühner, eine Grillecke, Bauwagen zum Übernachten. In einer stehen zwei goldene Buddha-Statuen. Die wollten Leute eigentlich nur zwischenlagern, aber dann wurden sie nie abgeholt. Nun heißt der Wagen „Betbude“, wird aber auch für Gäste genutzt.
Immer neue Menschen tauchen im Hof der SSM auf. Die Studentin aus Frankreich, Romane, die mal für ein Projekt in die Kommune kam und nun schon ein Jahr dort lebt. Hans, der in Österreich einen eigenen Handwerksbetrieb hatte, den im Kollektiv führen wollte, doch seine Angestellten wollten lieber Angestellte bleiben. So suchte er für sich nach Alternativen, kam als Gast nach Köln und blieb irgendwann für immer. Oder Niko, der eines der Heimkinder war, die in den 80er Jahren in der Kommune Unterschlupf fanden. „Rainer und die anderen haben immer den Kopf für uns hingehalten, das hab’ ich später nie vergessen“, sagt Niko.
Das Leben trieb ihn in andere Städte, lange arbeitete er in der Forstwirtschaft und kam vor kurzem zurück nach Köln. Zufällig sah er im Fernsehen, dass es die SSM noch gibt. Nun arbeitet er als Freiwilliger dort mit. „Das Konzept ist einfach Klasse“, sagt Niko, „keiner macht dem anderen Vorschriften, jeder darf sein, wie er ist.“
Natürlich sorgt das auch für Probleme. Die können mittwochs zur Sprache kommen, wenn sich die Kommune zum Frühstück trifft. Ein Pflichttermin für alle. Und manchmal müssen Menschen die Kommune auch wieder verlassen. „Gewalt und Klauen gibt es bei uns nicht“, sagt Rainer. Die anderen lachen. „Rainer sagt immer, jeder hat eine dritte Chance verdient“, sagt Ranne.
Es gelten andere Regeln in diesem Hinterhof. Für Rainer heißt das: Radikales Miteinander ist möglich. Er glaubt an die Macht der kleinen Schritte. „Viele wollen kein System mehr, das so viele Menschen ausspuckt und als ,unbrauchbar’ abstempelt“, sagt er. Die SSM hat jedenfalls so viel Zulauf wie nie zuvor.
Fragt man Rainer, ob Menschen in einem Kölner Hinterhof die Welt verändern können, sagt er: „Alles Neue beginnt im Alten.“