„Es gab viele, die mich abgeschrieben haben, die dachten, der schafft es eh nicht wieder“
(sid) John Degenkolb waren die Strapazen der „Hölle des Nordens“nach einer unruhigen Nacht noch anzusehen.„Ich bin ziemlich zerknirscht aufgewacht“, sagte der 29-Jährige am Montag im ZDF-Morgenmagazin nach dem Flug an den Fuß der Alpen mit müden Augen. Degenkolb lächelte trotzdem tapfer, denn die Gedanken an einen der größten Momente seiner Laufbahn ließen die Quälerei beinahe vergessen: „Freude und Glück machen alles gut.“
Was waren das für Szenen nach diesem grandiosen Tagessieg auf der Kopfsteinpflasteretappe der Tour de France nach Roubaix! Hemmungslos weinte Degenkolb nach der Zieldurchfahrt in den Armen seines Vaters, schluchzte regelrecht. All die Enttäuschungen der jün- geren Vergangenheit, sein schlimmer Trainingsunfall Anfang 2016, der beschwerliche Weg zurück, die für seine Familie tief empfundene Dankbarkeit und die Erinnerung an den Tod des besten Freundes seines Vaters stürzten ihn in ein wahres Gefühlschaos. „Unsere ganze Familie hat einen sehr wichtigen Men- John Degenkolb Radprofi schen verloren“, erzählte Degenkolb ergriffen, „das wirft einen sehr zurück, wenn man einen Menschen verliert, den man liebt, der von jetzt auf gleich so aus dem Leben gerissen wurde. Ich hatte sehr damit zu kämpfen, aber habe mir gesagt: Die Arbeit, alles, was ich tue, um wieder besser zu werden, mache ich für ihn.“
Und so brachten unbändiger Ehrgeiz und eiserner Wille den Thüringer wieder dahin zurück, wo er 2015 war: an die Spitze. Die Triumphe bei Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix schienen damals nur der Anfang einer langen Erfolgsserie zu sein, stattdessen hielt das Leben einige harte Prüfungen bereit. Genugtuung spielte daher am Sonntag auch eine Rolle. „Es gab viele, die mich abgeschrieben haben, die dachten, der schafft es eh nicht wieder“, sagte Degenkolb, „ich bin glücklich, diese ganzen Leute eine Besseren belehrt zu haben.“
Nach dem Trip in Richtung Alpen nach Chambery wartete im Teamhotel in Aix-les-Bains seine Frau Laura mit Sohn Leo Robert auf Degenkolb, bevor er mit den Mannschaftskollegen bei Trek-Segafredo auf seinen ersten Etappenerfolg bei einer Frankreich-Rundfahrt anstoßen durfte. „Diese Momente muss man noch viel, viel mehr genießen als in der Vergangenheit“, sagte der Wahl-Frankfurter.
Das Tour-Organ L‘Equipe beschrieb sinnbildlich für Degenkolb einen Triumph „mit der Kraft des Glaubens“, mit der Überzeugung, die ihm so lange auf dem Rad zu fehlen schien. Und als wäre es ein Wink des Schicksals, waren die Belgier Greg Van Avermaet und Yves Lampaert am Sonntag ebenso Degenkolbs Fluchtbegleiter wie bei seinem Roubaix-Erfolg 2015.„Ich freue mich sehr für ihn, er hat sich durch harte Zeiten gekämpft und jetzt seinen Tour-Traum wahr gemacht“, meinte Top-Sprinter Marcel Kittel, der selbst gerade durch ein Tal geht.
Degenkolb und die Tour de France, es war bisher wahrlich keine Liebesbeziehung. Der Geraer war manchmal nahe am Verzweifeln, wenn er sich wieder mit einem zweiten oder dritten Platz hatte zufriedengeben müssen. Doch dieser Ballast ist nun weg, es bleiben erstmal lediglich Hunderte unbeantworteter Glückwünsche. Diese Aufgabe dürfte für Degenkolb aber vergleichsweise ein Klacks sein.