Bulgarien wird sein schlechtes Image nicht los
Die ermordete Journalistin Viktora Marinova war wohl nicht das Opfer eines Auftragskillers. Trotzdem ist ihr Tod ein Politikum.
SOFIA Dieser Mord kam dem politischen Establishment Bulgariens mächtig in die Quere: Gerade erst hatte das Land zum ersten Mal seit seinem Beitritt zur EU im Jahr 2007 eine EU-Ratspräsidentschaft absolviert und das Image Bulgariens als korruptionsgebeuteltes Armenhaus Europas ein wenig aufpoliert. Doch dann wurde Anfang Oktober die bulgarische Journalistin Viktora Marinova beim Jogging überfallen, brutal misshandelt und ermordet. Die Tat, obwohl allem Anschein nach ein Verbrechen ohne politischen Hintergrund, löste einen internationalen Aufschrei aus.
Medien und Politiker zeigten sich bestürzt über den „Angriff auf die Pressefreiheit” in dem Balkanland. Auch der Vize-Präsident der Europäischen Kommission Frans Timmermans äußerte sich schockiert. Erneut sei „eine mutige Journalistin im Kampf für die Wahrheit und gegen Korruption gefallen“, die Verantwortlichen sollten „von den bulgarischen Behörden sofort zur Rechenschaft gezogen werden“, twitterte er.
Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov reagierte genervt. Kurzerhand bestellte er drei Dutzend Botschafter ein und teilte ihnen sein Missfallen darüber mit, dass sein Land vor der Weltgemeinschaft angeschwärzt worden sei. „Drei Tage lange habe ich ungeheuerliche Dinge über Bulgarien gelesen, und nichts davon ist wahr“, sagte er.
Freilich, dass es um die Medienfreiheit in seinem Land nicht gut bestellt ist, kann Borissov kaum bestreiten. Verschleierte Eigentumsverhältnisse bei Medienunternehmen und deren Missbrauch zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken wie auch Drohungen gegen Journalisten sind an der Tagesordnung. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist Bulgarien mit Rang 111 das am schlechtesten platzierte Land nicht nur der EU, sondern auch aller Balkanstaaten.
Und die Probleme des Landes beschränken sich nicht auf mangelnde Pressefreiheit und Korruption. Als die ermordete Journalistin Marinova in der nordbulgarischen Donaustadt Russe zu Grabe getragen wurde, trugen unter den Hunderten Trauernden einige schwarze T-Shirts mit der Aufschrift „Sistemata ni ubiva“(Das System tötet uns). Seit Anfang Juni 2018 kämpft eine Bürgerinitiative von Müttern unter diesem Slogan für die Rechte ihrer behinderten Kinder. Auch Marinova trug das schwarze T-Shirt mit weißer Schrift als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Kampf der protestierenden Mütter. Geht man durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia, begegnet man selten Menschen mit Behinderung. Ihre auffällige Abwesenheit ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass Behinderte in Bulgarien weit weniger in die Gesellschaft integriert sind als im übrigen Europa. In diesen Tagen sind sie indes nicht zu übersehen. Sie haben ein Zeltlager direkt auf der Straße unter dem Fenster von Regierungschef Borissov aufgeschlagen.
Der sorgte vor einigen Wochen mit der unbedachten Äußerung für Empörung, sein zuständiger Minister möge ihm doch „das Thema vom Hals schaffen“. Damit aber sorgte er nur dafür, dass der Funke des Protests aus der Hauptstadt auf Städte in der Provinz wie Varna und Burgas übersprang.
„Bulgarien hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und muss sie endlich erfüllen“, sagt Kristina Nikolaeva. Seit Jahren engagiert sich die Mutter eines achtjährigen autistischen Sohnes in der Konföderation zum Schutz der Rechte der Kinder, einer Dachorganisation von Initiativen und Stiftungen im ganzen Land. Lediglich 14.000 Menschen mit Behinderung verfügen in Bulgarien über personalisierte Hilfe zur Bewältigung des Alltags, doch 80.000 Behinderte würden eine solche Unterstützung benötigen. Die meisten von ihnen erhalten vom Staat lediglich eine Monatspauschale in Höhe von umgerechnet 45 Euro für die Bezahlung von Hilfsleistungen.
„Als wir die Diagnose unseres Sohnes Ljubi erfuhren, wollten wir sie zunächst nicht wahrhaben“, erzählt Kristina Nikolaeva, „das ging zwölf Stunden so, dann weinten wir. Schließlich mussten wir uns mit der Situation arrangieren. Und jetzt kämpfen wir dafür, sie zu verbessern.“In den vergangenen Jahren organisierte Nikolaeva zusammen mit Mitstreiterinnen zweimal jährlich nationale Protesttage. Da diese nicht zum Erfolg führten, schlugen sie im Frühsommer ihr Zelt vor dem Abgeordneteneingang der bulgarischen Volksversammlung auf, um ihre Volksvertreter Tag für Tag mit ihren Problemen und ihrer Forderung nach einer radikalen Reform der staatliche Fürsorge für Behinderte zu konfrontieren.
„Dieses Mal führen wir unseren Protest bis zum Ende“, sagt Nikolaeva entschlossen, „bis das Parlament unseren Gesetzesentwurf zur persönlichen Hilfe verabschiedet hat und jeder Behinderte den persönlichen Assistenten erhält, der ihm hilft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, vom Kindergarten über die Ausbildung bis zum Arbeitsmarkt“.
Die ermordete Viktoria Marinova, Mutter einer siebenjährigen Tochter, hatte sich als TV-Moderatorin zunächst vor allem Lifestyle-Themen wie Mode und Ernährung gewidmet. Erst vor kurzem wandte sie sich politischen und sozialen Themen zu. Ihr Tod mag keinen politischen Hintergründe gehabt haben; eine politische Dimension hat er in den Augen vieler Bulgaren allemal.