Binnen weniger Tage bricht im November 1918 die tausend Jahre alte Monarchie in Deutschland zusammen. Von einer völligen Umkehrung der Verhältnisse aber kann keine Rede sein: Die Revolution ist ein einziger großer Kompromiss. Das Scheitern des Experiments
Wenn die Quellen nicht trügen, darf man sich Günther Victor, Fürst zu Schwarzburg, als durchaus sympathischen Menschen vorstellen. Zeichnerisch begabt sei der Fürst gewesen, heißt es, gebildet, zugleich öffentlichkeitsscheu und zurückhaltend. Er herrscht 1918 über knapp 200.000 Untertanen in den zwei thüringischen Zwergstaaten Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen. Am 23. November allerdings ist es damit vorbei: Günther Victor dankt für Rudolstadt ab (allerdings erst, nachdem der Landtag eine neue, republikanische Verfassung verabschiedet hat), zwei Tage später auch für Sondershausen. Er ist der letzte der knapp zwei Dutzend Bundesfürsten des Deutschen Kaiserreichs, der seine Krone verliert. Seit dem 25. November 1918 gibt es in Deutschland nur noch Republiken.
Binnen zwei Wochen sind alle Throne gestürzt – am 9. November erst hat Kaiser Wilhelm II. abgedankt, oder besser: ist durch Reichskanzler Max von Baden abgedankt worden und ins niederländische Exil geflohen. Es folgen Dresden und Darmstadt, Bückeburg und Braunschweig. Eine tausend Jahre alte Ordnung bricht in Tagen zusammen, zumindest anfangs auch ohne größeres Blutvergießen. Arbeiterund Soldatenräte übernehmen die Macht in vielen Städten, das Reich regiert ein „Rat der Volksbeauftragten“, der vom Sozialdemokraten Friedrich Ebert geführt wird und der sofort das Frauenwahlrecht beschließt. Deutschland hat Revolution gemacht. Und seit dem 11. November ist auch der Krieg beendet: Waffenstillstand, endlich.
Es ist ein eigentümlich prosaischer Umsturz. Als der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November in einem halb spontanen Akt vom Fenster des Reichstags die Republik ausgerufen hat, um dem Sozialisten Karl Liebknecht zuvorzukommen, fährt ihn Ebert an: „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!“Das sei Sache der Verfassunggebenden Nationalversammlung. Revolution nach Vorschrift.
Zwar verflüchtigt sich die Monarchie – aber von der völligen Umkehrung der Verhältnisse ist das Land weit entfernt. Schon am 10. November hat Ebert mit General Wilhelm Groener telefoniert und der neuen Macht die Unterstützung der Armee gesichert. Im Gegenzug wird die Befehlsgewalt des Offizierskorps nicht angetastet. Fünf Tage später vereinbaren Arbeitgeber und Gewerkschaften Grundsätze der Zusammenarbeit, inklusive Achtstundentag. Eine Verstaatlichung etwa der Schwerindustrie wird es nicht geben. Und die Räte sind flüchtige Gebilde in der Zeit des Machtvakuums, keine Keimzelle einer neuen Herrschaftsform.
Den braven Bürgern und auch vielen Revolutionären steht nämlich ein Schreckensbeispiel vor Augen: Russland. Seit einem Jahr herrschen dort die Bolschewiki, und das Riesenreich ist in blutigem Chaos versunken. Bolschewisten – das sind für die Rechten in Deutschland selbst gemäßigte Sozialdemokraten wie Ebert. Die Gemäßigten wiederum beäugen misstrauisch die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), die sich 1916 von der SPD abgespalten haben und jetzt ihre Chance sehen, mit dem radikalen Räteflügel die sozialistische Republik zu verwirklichen. Wirklich gewaltbereit aber ist nur eine winzige Minderheit, die allerdings vor allem mit sich selbst beschäftigt ist.
Dennoch – die Bolschewistenfurcht ist ein bestimmendes Moment dieser Tage. Das andere ist die Niederlage. Der Historiker Detlev Peukert hat schon 1987 festgestellt: „Die Deutschen wagten ihr republikanisches Experiment zur denkbar ungünstigsten Stunde.“Das war in einem umfassenden Sinn gemeint, mit Blick auf das Kriegsende ebenso wie auf Demografie und Wirtschaft. Die Niederlage aber ist die erste und schwerste Hypothek der jungen Republik. Andererseits ist die Revolution unmittelbar mit der Niederlage verbunden: Entstanden ist sie aus der Meuterei der Hochseeflotte.
Der Schock des Waffenstillstands, der eher eine Kapitulation ist, ist trotzdem immens. „Man fühlt diese furchtbare Erniedrigung und den qualvoll hässlichen Tod des alten Deutschland jetzt nur als dumpfes Vorgefühl dessen, was künftige Jahre über wird gelitten werden müssen“, schreibt der Soziologe Max Weber am 12. November in Heidelberg in Erwartung der alliierten Besetzung.
Aber selbst der Nationalist Weber, der noch ein Jahr zuvor für Kriegsanleihen geworben hat und Eberts neue Regierung für eine „dumme Bande“hält, zieht die „feindliche Rettungsokkupation“der Herrschaft der radikalen Linken vor. Wer weniger Skrupel hat als Weber, erklärt diejenigen, die die Niederlage abzuwickeln haben, kurzerhand zu „Novemberverbrechern“(wie Adolf Hitler) und fabuliert davon, das Heer sei „von hinten erdolcht“worden (wie Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg). Der Boden für solche Hassparolen ist fruchtbar. Die Ungewissheit ist maximal, politisch, militärisch, ökonomisch, kulturell; von der Sehnsucht nach der guten alten Kaiserzeit zum offenem Hass auf das „System“Weimar ist es nicht weit.
1918 zeigt sich zum ersten Mal das große Dilemma der deutschen Sozialdemokratie: verantwortungsvoll lavieren zu müssen zwischen den Utopien der radikalen Linken und den Beharrungskräften der demokratischen Rechten. Der Bruch mit den Linken kommt schnell, Ende Dezember, als die USPD-Leute aus dem Rat der Volksbeauftragten austreten. 1919 lassen Sozialdemokraten nicht nur den Spartakusaufstand in Berlin niederschlagen, sondern reichen auch die Hand zum paramilitärischen Terror der nationalistischen Freikorps. „Einer muss der Bluthund werden“, sagt im Januar Gustav Noske, Volksbeauftragter für Heer und Marine – und ein Sozialdemokrat. Ein stabiles Bündnis mit der Rechten erwächst daraus trotzdem nicht: Deutschnationale und am Ende auch das katholische Zentrum untergraben die Demokratie, statt sie zu stützen. Weimar fehlt jeder Glanz, fehlt die Identifikation.
Das Scheitern der Demokratie ist damit auch ein Scheitern der SPD, die am Ende ihre wichtigste, fast einzige Stütze ist. Wie man ihre Rolle beurteilt, bestimmt die Bewertung dieser deutschen Revolution. Trotzdem täte man den Sozialdemokraten Unrecht, würde man behaupten, wie es Sebastian Haffner vor 50 Jahren tat, sie hätten die Revolution verraten. Was 1918/19 noch möglich gewesen wäre ohne Bürgerkrieg und Chaos, lässt sich nicht sicher sagen. Hätte sie nicht mit den Radikalen gebrochen, wäre in Weimar mit der SPD jedenfalls kaum Staat zu machen gewesen.
Umgekehrt kommt die Katastrophe von 1933 nicht zwangsläufig und schon gar nicht, weil diese Revolution eine Revolution der Kompromisse war. Der 1918 begonnene Versuch, Deutschland nicht nur wirtschaftlich und kulturell, sondern auch politisch auf den Stand Westeuropas zu bringen, geht zwar schief, mit allen bekannten grässlichen Folgen. Dazu braucht es aber mehr als die Halbheiten von 1918. Die Erblast der Niederlage, die Unnachgiebigkeit der Kriegsgegner, die geschworene Feindschaft der Rechten, das Trauma der Inflation, die Schwäche der Liberalen, am Ende die Wirtschaftskrise, in dieser Krise das Fehlen eines Demokraten im Präsidentenamt und die Verblendung der Kommunisten, die die SPD für den schlimmeren Feind halten als die Nazis – erst das alles ist zu viel für das Experiment Weimar.
Schwarzburg hat noch einmal einen kurzen Auftritt in der deutschen Geschichte. Am 11. August 1919 unterzeichnet Friedrich Ebert, inzwischen Reichspräsident, dort Deutschlands erste demokratische Verfassung – im Sommerurlaub. Ebert und Fürst Günther Victor begegnen sich kurz auf der Terrasse von Schloss Schwarzburg. Zu sagen, so berichtet man in Thüringen, hatten sich die beiden Herren außer einem kurzen Gruß: nichts. Die Zeitenwende ist längst vollzogen.