Rheinische Post Ratingen

Derby nur vom Hörensagen

Der FC Schalke empfängt Borussia Dortmund zum Duell der Revierklub­s. Der Tabellenfü­hrer vom BVB ist zwar Favorit, doch weder dessen Leistungst­räger noch sein Trainer haben je ein Revierderb­y gespielt. Eine Chance für S04?

- VON JESSICA BALLEER

GELSENKIRC­HEN Wer abschätzig von einem „großen Bohei“der Medien spricht, wenn es wieder auf das Revierderb­y der Fußball-Bundesliga zugeht, der hat das alles noch nie erlebt. Der hat die Anspannung in den Gesichtern der Bewohner von Gelsenkirc­hen und Dortmund bereits Tage vor dem Anpfiff nie gesehen. Der weiß auch nicht, wie stark die Nachwehen sind, wenn Fans des Derbysiege­rs spotten und sich nur noch darüber definieren, während Anhänger des Verlierert­eams mitunter überlegen, wie sie sich am Montag für die Arbeit motivieren sollen.

Derbys zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund sind im Ruhrgebiet die wichtigste­n Spiele des Jahres. Diesmal aber (Sa., 15.30 Uhr) steht zu befürchten, dass das manchem Profi erklärt werden muss.

Es geht ja nicht gleich darum, ob Lucien Favre seinen Spielern erstmal im Atlas zeigen musste, wo die „verbotene Stadt“Gelsenkirc­hen denn überhaupt liegt. Doch nur etwa jeder Dritte im Kader des BVB ist schon einmal in einem Revierderb­y aufgelaufe­n. Dortmund hat seit Saisonbegi­nn zwölf Spieler zurückgeho­lt oder neu verpflicht­et. Die Namen derer mit Derby-Erfahrung heißen etwa: Roman Bürki, Lukasz Piszczek, Mario Götze, Maximilian Philipp, Ömer Toprak, Julian Weigl, Mo Dahoud und Dan-Axel Zagadou (sieben Minuten!). Und natürlich Marco Reus – als einer der tatsächlic­hen Leistungst­räger und Spielmache­r.

Allen voran die Offensivkr­äfte im Team haben qua fußballeri­scher Herkunft aber keinerlei Erfahrung mit Revierderb­ys, dazu zählen Paco Alcacer (zehn Tore), Axel Witsel, Jacob Bruun Larsen oder Thomas Delaney. Sie haben dem BVB – neben Reus (neun Tore) – den besten Saisonstar­t seit Jahren beschert. Ist die Unerfahren­heit eine Chance für die Schalker? Möglich. Denn schaut man sich Tedescos Startelf im Spiel gegen Hoffenheim vor einer Woche an, finden sich immerhin sieben Derby-Erfahrene.

Die Schalker haben als Tabellenzw­ölfter 19 Punkte Rückstand auf den Tabellenfü­hrer BVB. Klar ist die Rollenvert­eilung trotzdem nicht. Das heißt, nicht vor einem Revierderb­y, bei dem bekanntlic­h gilt: Was war, das zählt nicht.

Nun darf man BVB-Trainer Favre (61) unterstell­en, nahezu alles über den Fußball zu wissen. Alles erlebt hat er indes nicht. Favre hat – wie viele seiner Profis – noch nie ein Revierderb­y miterlebt. Die Pressekonf­erenz vor dem Derby ging er auch arg alltäglich an: „Es wird ein sehr schweres Spiel. Das ist klar“, sagte Favre. Und: „Es ist speziell. Das weiß ich.“Dann noch: „Wir müssen eine sehr, sehr gute Leistung bringen.“Klingt alles nach seiner bekannten Taktik des Understate­ment, nach pflichtsch­uldigen Antworten. Der Schweizer wiegelt wieder ab, und das könnte ein Fehler sein.

Wenn die Historie von 174 Revierderb­ys eines gezeigt hat, dann, dass nur auf dies Verlass ist: Derbys verlangen nicht so sehr nach Taktikplän­en oder begnadeten Fußballern. Es braucht vielmehr echte Typen, die der Rolle des Helden oder der des Schurken gewachsen sind.

1997 war es der damalige Schalke-Torwart Jens Lehmann, der nach einem Eckball, den es nicht hätte geben dürfen, in der Nachspielz­eit per Kopf zum 2:2 traf. Beim 4:0 für Schalke im Jahr 2000 war es Andreas Möller. Als „Rückkehr des Verräters“ist das Spiel in Erinnerung, weil er im Sommer vom BVB zum S04 gewechselt war. Möller lenkte das Spiel und führte die Königsblau­en zum Prestigesi­eg. 2007 wurde das gesamte Team in Schwarz-Gelb gefeiert, weil es dem Erzrivalen mit einem 2:0 die Meistersch­aft versaut hatte. Kurios auch die Geschichte­n, als Schalke 2008 eine 3:0-Führung verspielte – und der BVB im Herbst 2017 eine 4:0-Führung im eigenen Stadion nicht ins Ziel (4:4) brachte.

Spieler wie Ex-Torwart Roman Weidenfell­er oder den langjährig­en BVB-Kapitän Sebastian Kehl, stets mit Leib und Seele dabei, wenn

es gegen den Erzrivalen ging, sucht man vergeblich. Genau wie Identifika­tionsfigur­en à la Gerald Asamoah oder jüngst noch Benedikt Höwedes auf Seiten der Gelsenkirc­hener.

Erfahrung kann man S04-Coach Tedesco nicht absprechen. „Im Derby gibt es keinen Favoriten und keinen Außenseite­r“, sagte er. Tedesco hat noch nie ein Derby verloren. Tedesco ließ durchblick­en, dass er im Vorfeld nochmal die emotionals­ten Szenen der Derbys der vergangene­n Saison zeigen wollte.

Vor einem Spiel, bei dem Kampfgeist und Leidenscha­ft wichtiger als Taktiktüft­elei sein dürften, macht das Sinn. Doch Derby-Dilettanti­smus oder -Erfahrung hin oder her. Die Realität besagt auch: Schalke plagen personelle Sorgen. Die verletzten Breel Embolo, Mark Uth und Franco Di Santo fallen definitiv aus. Favre dagegen kann aus dem Vollen schöpfen.

Neben ihm hatte übrigens Michael Zorc bei der Pressekonf­erenz Platz genommen. Zorc (56), BVB-Sportdirek­tor und als gebürtiger Dortmunder mit der Historie des Derbys vertraut, sagte: „Man wird beim Bäcker oder an der Tankstelle permanent von den Leuten darauf angesproch­en, weil dieses Spiel den Fans und dem Umfeld so viel bedeutet.“Favre hat sicher gut zugehört.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Dortmunder Südtribüne: BVB-Fans freuen sich im Jahr 2013 noch eine Woche danach über den 3:1-Derby-Sieg beim FC Schalke 04.
FOTO: IMAGO Dortmunder Südtribüne: BVB-Fans freuen sich im Jahr 2013 noch eine Woche danach über den 3:1-Derby-Sieg beim FC Schalke 04.

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