Die Transit-Berlinale
Heute starten glanzvoll die Berliner Filmfestspiele. Doch die Kinobranche hierzulande leidet an deutlich sinkenden Besucherzahlen.
BERLIN Heute beginnt die Berlinale, Deutschlands größtes Kino-Fest und nach wie vor eines der drei wichtigsten Film-Festivals der Welt. Am Abend wird zur Eröffnung die dänische Produktion „The Kindness Of Strangers“gezeigt; Regisseurin ist Lone Scherfig, deren Filme „Italienisch für Anfänger“und „Zwei an einem Tag“auch in Deutschland ein großes Publikum fanden. Bis zum 17. Februar sind 400 Filme zu sehen, am Abend des 16. Februar werden die Bären verliehen. Diese Berlinale ist eine Veranstaltung des Übergangs, eine Transit-Berlinale sozusagen. Zum einen, weil Dieter Kosslick letztmalig als Direktor über den Roten Teppich schreitet. Zum anderen, weil das Kino sein seit Jahrzehnten bewährtes Geschäftsmodell gegen Streamingdienste wie Netflix verteidigen muss. Aber der Reihe nach:
Dieter Kosslick
Nach 18 Jahren als Festival-Direktor endet die Ära Kosslick. Der 70-Jährige (Markenzeichen: Hut und roter Schal), der zuvor neun Jahre lang die Filmstiftung NRW leitete, hat zuletzt viel Kritik einstecken müssen. Prominente Regisseure forderten einen Neuanfang der Festspiele. Das Programm sei zu unübersichtlich, der Wettbewerb stehe nicht mehr für Qualität, hieß es. Was man Kosslick indes zugute halten muss, ist die Stärkung des deutschen Films. 109 der in diesem Jahr erwarteten 400 Filme kommen aus Deutschland. Außerdem hat er die Berlinale zu einem Publikumsfestival gemacht, die Konkurrenten Venedig und Cannes sind das nicht. Mehr als 300.000 Tickets werden dieses Jahr verkauft.
Nachfolge
Die neue Leitung ist anwesend: die Niederländerin Mariette Rissenbeek (62, ab 2020 Geschäftsführerin) und Carlo Chatrian (46, ab 2020 künstlerischer Direktor). Ihre Verträge laufen zunächst über fünf Jahre. Rissenbeek gilt als international gut vernetzt, sie kennt sich im Förderdschungel aus. Während Chatrian das Festival in Locarno leitete; er hat des Ruf eines „Cinephilen“, mit dem man auch nachts um vier über das philippinische Kino reden kann. Stars
Erwartet wird Oscar-Anwärter Christian Bale, der seinen Film „Vice“vorstellen wird. Darin spielt er den früheren US-Vizepräsidenten Dick Cheney. Neue Filme stellen auch die Schauspielerinnen Catherine Deneuve und Diane Kruger vor. Mario Adorf präsentiert eine Dokumentation über sein Leben. Und die britische Schauspielerin Charlotte Rampling holt sich den Ehrenbären für ihr Lebenswerk ab.
Wettbewerb
Ach, der Wettbewerb! Wer weiß noch den Titel des Gewinnerfilms aus dem vergangenen Jahr? Es war „Touch Me Not“von Adina Pintilie, und er fand nur 5000 Kino-Zuschauer. In diesem Jahr könnte es populärer werden: Fatih Akin geht mit der Bestseller-Verfilmung „Der goldene Handschuh“nach Heinz Strunk ins Rennen. Francois Ozon schickt „Grace A Dieu“nach Berlin. Neue Filme kommen auch von den Erfolgsregisseuren Agnieszka Holland, André Techiné und Zhang Yimou. Von 17 Filmen im Wettbewerb stammen sieben von Frauen, das sind 41,2 Prozent und damit viel mehr als in Cannes und Venedig. Der Zukunft des Films begegnet man künstlerisch betrachtet inzwischen in der Sektion „Forum“. Dort werden Arbeiten gezeigt, die Wagnisse eingehen. In diesem Jahr etwa mit der Verfilmung des unverfilmbar anmutenden Romans „Die Kinder der Toten“von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.
Netflix
„Wir zeigen Filme, die fürs Kino gemacht sind“, sagt Dieter Kosslick kategorisch mit Bezug auf die Streamingdienste. Im Wettbewerb ist mit Isabel Coixets „Elisa y Marcela“dennoch eine Netflix-Produktion vertreten. Der Grund: Netflix habe versichert, dass der Film in Spanien im Kino starten werde. Kosslick ist bewusst, dass spätestens nach den zehn Oscar-Nominierungen für die Netflix-Produktion „Roma“, die in Cannes abgelehnt wurde und in Venedig den Goldenen Löwen gewann, der Kampf um den weltweiten audiovisuellen Markt tobt. Netflix soll über einen Etat von 13 bis 15 Milliarden Dollar verfügen, heißt es, das ist mehr als jedes Hollywood-Studio hat. 80 Filme produziert die Streaming-Plattform im Jahr, doppelt so viele wie die Warner-Studios. Den Umgang mit der Konkurrenz definieren werden erst Kosslicks Nachfolger. Deutschland
Im Wettbewerb treten drei deutsche Filme an: neben „Der goldene Handschuh“noch „Ich war zuhause, aber“von Angela Schanelec über einen Jungen, der eine Woche verschwunden ist und dann heimkehrt, und „Systemsprenger“von Nora Fingcheidt über eine Neunjährige in einer Wohngruppe, die sich danach sehnt, wieder bei ihrer Mutter zu leben.
NRW
NRW ist stark vertreten bei der Berlinale. Die Filmstiftung förderte einige Produktionen, darunter den groß angelegten biographischen Film „Brecht“von Heinrich Breloer. Der Kölner Filmemacher widmet sich nach den „Buddenbrooks“und den „Manns“dem Leben Bertolt Brechts. Der junge Brecht wird von Tom Schilling gespielt, Burghart Klaußner verkörpert den alten. Die Toten Hosen werden erwartet, sie stellen die Tournee-Dokumentation „Weil du nur einmal lebst“vor. Auch Diane Krugers Film „Die Agentin“wurde mit Geld aus NRW finanziert. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt ist stets der NRW-Empfang am Sonntagabend. Dort stehen Anna Schudt und Sönke Wortmann auf der Gästeliste, außerdem Anke Engelke und Iris Berben sowie Wotan Wilke Möhring.
Jury
Angeführt wird die Jury von Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche („Der englische Patient“, „Chocolat“). Sie entscheidet unter anderem mit Schauspielerin Sandra Hüller und der Produzentin Trudie Styler (Ehefrau von Sting) über die Bärenvergabe. Dieter Kosslick wollte den Anteil weiblicher Regisseure vergrößern, das ist ihm – zumindest im Vergleich zu anderen Festivals – gelungen: 191 der 400 Filme wurden von Frauen gedreht. Als eines der Hauptthemen hat Kosslick die Familie ausgegeben. Viele Produktionen würden das häusliche Zusammenleben der Menschen zum Thema machen. Und: Kosslick hob die Doku „Who Will Write Our History“ins Programm. Sie erzählt von einem Geheimarchiv im Warschauer Ghetto, das bezeugen soll, wie Juden dort lebten und ermordet wurden. „AfD-Mitglieder dürfen kostenlos rein“, so Kosslick. „Und wenn sie dann noch sagen, das ist ein Fliegenschiss, sollte vielleicht jemand anderes einschreiten als die Filmemacher.“
Branche
Da sieht es düster aus: So ist die Zahl der Kinobesucher hierzulande 2018 deutlich zurückgegangen: Noch 105,4 Millionen Kinogänger wurden gezählt. Damit wird die Branche nach Angaben der Filmförderungsanstalt vor Beginn der Berlinale mit den schlechtesten Zahlen seit 1992 konfrontiert. 2018 wurden 13,9 Prozent weniger Tickets als ein Jahr zuvor verkauft. 2017 hatten 122,3 Millionen Menschen für einen Film im Kino bezahlt.