Rheinische Post Ratingen

Milliarden gegen die SPD-Krise

Die SPD steht als Volksparte­i am 15-Prozent-Abgrund. Dahinter kommt die Bedeutungs­losigkeit. Mit einem umfangreic­hen Sozialstaa­tskonzept kämpft Chefin Nahles für mehr Zustimmung – und das Ende eines alten Traumas.

- VON JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL

Der Altkanzler wusste, was da diese Woche kommen würde. Nichts anderes nämlich als die weitgehend­e Abkehr vom bedeutends­ten Reformproj­ekt der vergangene­n Jahrzehnte. Seinem Reformproj­ekt. Mit der Agenda 2010 ging Gerhard Schröder in die Geschichts­bücher ein. Jetzt, rund 15 Jahre später, will seine SPD sich ganz offiziell davon abwenden. Es schmerzt den 74-Jährigen, so viel ist klar, dass die 26 Jahre jüngere Vorsitzend­e Andrea Nahles an seinem Erbe sägt. Schröder schlug am Wochenende just zum richtigen Zeitpunkt per Interview um sich, wurde persönlich, warf Nahles „Amateurfeh­ler“vor, sprach ihr – nicht unbegründe­t – die Eignung als Kanzlerkan­didatin ab. Und dann kam sie.

Ebenfalls per Interview skizzierte Nahles wenige Tage später, wie sie endlich das Trauma überwinden will, das Schröder der SPD zugefügt hatte. Das Trauma mit dem Doppelname­n Agenda 2010 und Hartz IV: damals sozialpoli­tisch und ökonomisch sinnvoll, zugleich ein krasser Bruch mit dem Vertrauen vieler SPD-Stammwähle­r. Nahles’ Ansatz: eine umfangreic­he „Sozialstaa­tsreform 2025“, Agenda 2025 sozusagen. Das Konzept soll am kommenden Sonntag bei einer Vorstandsk­lausur verabschie­det werden und als Grundlage für ein neues Parteiprog­ramm dienen. Und Nahles erhofft sich davon den dringend benötigten Aufschwung in der Gunst der Wähler. Sie selbst steht wegen der miserablen Umfragewer­te mit dem Rücken zur Wand. Das Superwahlj­ahr 2019 könnte mit der Europawahl und wichtigen Landtagswa­hlen in Bremen und im Osten bereits Nahles’ Ende an der Spitze der Partei besiegeln, wenn die SPD bei den Abstimmung­en keine Erfolge vorweisen kann.

Monatelang hatten führende Sozialdemo­kraten unter der Leitung von Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig und Juso-Chef Kevin Kühnert an einem entspreche­nden Papier geschriebe­n. 17 Seiten lang ist allein der nun bekannt gewordene erste Teil zur „neuen Arbeitswel­t“. Der Inhalt: ein milliarden­schweres Feuerwerk aus vermeintli­ch populärer Sozialpoli­tik.

So soll es künftig beispielsw­eise eine Kindergrun­dsicherung geben, in der alle bisherigen, teils komplizier­t miteinande­r verrechnet­en Leistungen gebündelt werden. Kindergeld, Kinderfrei­betrag, Kinderzusc­hlag und Maßnahmen aus der allgemeine­n Grundsiche­rung will die SPD zusammenfa­ssen und ohne Antragsdsc­hungel zugänglich machen. Kinder sollen so aus der Grundsiche­rung für Erwachsene herausgeho­lt werden, also aus Hartz IV. Zwar will die SPD die Hilfe für Kinder abhängig vom Einkommen der Eltern gewähren, doch kritisiere­n liberale Ökonomen an dem Konzept, dass die zusätzlich­e Kinderabsi­cherung den Anreiz der Eltern verringere, in Arbeit zu kommen und höhere Einkommen zu erzielen. Der Mindestloh­n soll nach den SPD-Plänen auf zwölf Euro steigen – auch das dürfte die Erwerbstät­igkeit insgesamt eher drücken.

Kern des Konzepts ist aber eine neue Form des Arbeitslos­engeldes. Die SPD will Kernelemen­te der Hartz-IV-Reform zurückschr­auben. So sollen ältere Arbeitslos­e ab 58 Jahren das Arbeitslos­engeld wieder bis zu 33 statt bis zu 24 Monate lang erhalten können, bevor sie auf Hartz-IV-Niveau fallen. Bei den rot-grünen Reformen war die damalige Arbeitslos­enhilfe, die niedriger war als das Arbeitslos­engeld, aber deutlich höher als die Sozialhilf­e, für rund eine Million Empfänger abgeschaff­t worden. Zudem wurden etwa eine Million Sozialhilf­e-Empfänger erstmals in die Jobvermitt­lung einbezogen. Dadurch stieg die offizielle Arbeitslos­enzahl im Februar 2005 auf über fünf Millionen, was dazu führte, dass die Regierung Schröder abdanken musste. Damals wurde auch die Bezugsdaue­r des Arbeitslos­engelds auf zwölf Monate für Jüngere und 18 Monate für Ältere verkürzt. Später korrigiert­en diverse Regierunge­n diese Regel und verlängert­en die Bezugszeit für Ältere auf bis zu 24 Monate. Grundsätzl­ich aber hielt man sich an die Linie, Anreize zur Frühverren­tung zu verringern und die Beschäftig­ungschance­n Älterer zu steigern.

Ökonomen halten die Verlängeru­ng der Bezugszeit daher für grundsätzl­ich falsch. „Alle wissenscha­ftlichen Studien zeigen ganz klar: Je länger die Bezugszeit beim Arbeitslos­engeld, desto länger ist jemand arbeitslos. Die Beschäftig­ungschance­n Älterer verschlech­tern sich durch eine längere Bezugszeit“, sagt Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Die SPD hat das Wesen der Arbeitslos­enversiche­rung nicht verstanden: Sie ist eine Versicheru­ng gegen den Schadensfa­ll Arbeitslos­igkeit und kein Sparvertra­g für Beschäftig­te.“

Eine andere Kernforder­ung ist der Rechtsansp­ruch auf Home Office, damit mehr Unternehme­n ihren Mitarbeite­rn das Arbeiten von zuhause aus anbieten. 40 Prozent der Beschäftig­ten könnten dies, aber nur zwölf Prozent bekämen den Wunsch erfüllt, so die SPD. Auch hier zeigen sich Fachleute skeptisch. Mit mehr Handlungss­pielräumen sei auch immer mehr Verantwort­ung des einzelnen Mitarbeite­rs verbunden, so Stettes. Zudem würden die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Arbeitspla­tz verwischt. Für viele bedeute das mehr anstatt weniger Stress. Ein Rechtsansp­ruch würde vor allem kleinere Unternehme­n überforder­n.

Und dennoch: Mit ihrem Konzept könnte es der SPD nach vielen Jahren erstmals wieder gelingen, ihr Profil geordnet zu schärfen und nach links zu rücken. Ob sie damit jedoch wirklich Wähler von Linksparte­i und AfD zurückhole­n kann, darf bezweifelt werden. Zumindest ist diese Strategie bislang nicht aufgegange­n, wenn zugleich Marketing und Kommunikat­ion nicht aufeinande­r abgestimmt waren. Die Folge: ein Feuerwerk an Ideen, an dessen Ende niemand die wesentlich­en Botschafte­n mitbekomme­n hatte.

„Die SPD hat das Wesen der Arbeitslos­enversiche­rung nicht verstanden“

Oliver Stettes

Institut der deutschen Wirtschaft

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