Rheinische Post Ratingen

Wenn Weltmeiste­r in die Jahre kommen

Mats Hummels und Jerome Boateng waren Stars im Finale von Rio 2014. Fünf Jahre später sind sie nicht mehr unumstritt­en. Da geht es ihnen wie einigen Kollegen des WM-Teams.

- VON ROBERT PETERS

BERLIN Der Klassenspr­echer war ein paar Minuten ziemlich kleinlaut. Mit einem viel zu kurz geratenen Versuch einer Kopfball-Rückgabe auf seinen Torwart Sven Ulreich brachte Bayern Münchens Innenverte­idiger Mats Hummels den Berliner Kollegen Davie Selke ins Spiel. Der Hertha-Angreifer besorgte den überrasche­nden 2:2-Ausgleich, der die Bayern im Pokal-Achtelfina­le in die Verlängeru­ng zwang. Die Gäste setzten sich dann doch mit 3:2 durch, und anschließe­nd war auch Hummels wieder gesprächig. Knapp fünf Jahre nach dem Weltmeiste­rtitel von Rio ist er allerdings längst nicht mehr unumstritt­en. Dieses garstige Los teilt er mit einigen seiner Kollegen, die in Brasilien das Endspiel gegen Argentinie­n mit 1:0 gewannen. Eine Bestandsau­fnahme.

Manuel Neuer (32) Bayern Münchens Schlussman­n kämpft um Anschluss an jene Form, die ihn zum besten Torwart der Welt machte. Bei der WM in Russland im vergangene­n Sommer gelang es ihm so wenig wie in der Bundesliga-Hinrunde, die er zum ersten Mal in seiner Laufbahn in der Rubrik „ferner liefen“abschloss. Viel zu wenig bei seiner Begabung und viel zu wenig bei seinem Ehrgeiz. Gerade ist er mal wieder verletzt – aber nur leicht. Bei Bundestrai­ner Joachim Löw und bei seinem Klubcoach Niko Kovac genießt Neuer höchstes Ansehen. Tendenz: bald wieder in Topform.

Benedikt Höwedes (30) Die ehemalige Schalker Galionsfig­ur fristet ihr Dasein bei Lokomotive Moskau. Dem Schalker Jungtraine­r Domenico Tedesco war er nicht mehr schnell genug, und das war wohl eine zutreffend­e Einschätzu­ng. Die Nationalma­nnschaft ist für Höwedes nur noch eine Erinnerung an seine besten Tage. Tendenz: Die internatio­nale Karriere ist beendet.

Mats Hummels (30) Der Münchner Verteidige­r ist ebenfalls kein Sprinter. Das hatte sein Trainer Niko Kovac bereits erkannt, als er noch Eintracht Frankfurt betreute. Und weil er um Hummels’ Mängel in der Grundbesch­leunigung wusste, legte er das Frankfurte­r Spiel im Pokalfinal­e auf überfallar­tige Konter an. Mit Erfolg. In Ermangelun­g geeigneter Kollegen stellt Kovac Hummels inzwischen auch bei den Bayern auf. Inzwischen steht jedoch schon fest, dass im Sommer der Stuttgarte­r Benjamin Pavard kommt. Verhandelt wird mit Lucas Hernandez. Deren Vorteile: Sie sind erst 2018 Weltmeiste­r geworden, und sie können beide richtig rennen. Für Hummels bedeutet das: Die Zeit in München läuft ab. Jerome Boateng (30) Der langjährig­e Nebenmann von Mats Hummels machte im WM-Finale 2014 das beste Spiel seiner Karriere. Seither war der muskelbepa­ckte Körper häufig mal außer Dienst, dafür nahmen die außersport­lichen Aktivitäte­n im Bereich von Brillenhan­del und Selbst-Vermarktun­g in Übersee zu. In München sitzt Boateng meist grummelnd auf der Bank. Tendenz: Auch er hat bei den Bayern und in der Nationalma­nnschaft keine große Zukunft mehr.

Philipp Lahm (35) Der Kapitän der Weltmeiste­r-Elf trat zu früh zurück. Damit ersparte er sich freilich Diskussion­en um Mängel beim Antritt oder im Zweikampf. Der clevere Münchner mischt in mehreren Unternehme­n führend mit, und er ist der Organisati­onschef für die Europameis­terschaft 2024 in Deutschlan­d. Vielleicht wird er mal DFB-Präsident oder Chef beim FC Bayern, wenn Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß kurz vor dem 80. Geburtstag doch mal an Rücktritt denken sollten.

Bastian Schweinste­iger (34) Der blutende Held der Finalschla­cht von Maracana versüßt sich den sportliche­n Lebensaben­d in den USA. Aus der Nationalma­nnschaft ist er zurückgetr­eten. Die Fußballnat­ion bewahrt ihm ein ehrendes Gedenken.

Toni Kroos (29) Wer mit Real Madrid Champions-League-Titel in Serie gewinnt, der kann nicht zum alten Eisen gehören. Kroos ist immer noch einer der großen Strategen des Fußballs. Ein Sprinter und Grätscher wird er nicht, das braucht er nicht. Tendenz: Er bleibt Löws zentrale Mittelfeld­figur.

Christoph Kramer (27) Er weiß inzwischen aus vielen Gesprächen und von vielen TV-Mitschnitt­en, dass er tatsächlic­h in der Startaufst­ellung des WM-Finales stand. Eine Gehirnersc­hütterung nach einem gewaltigen Zusammenpr­all hat die Erinnerung nachhaltig getrübt. Die Form des Jahres 2014 hat Kramer nicht mehr erreicht, selbst im Verein bei Borussia Mönchengla­dbach ist er nur noch zweite Wahl. Es ehrt ihn sehr, wie fair er damit umgeht. Tendenz: Die Nationalma­nnschaft ist kein Thema mehr.

Mesut Özil (30) Von Teilen der Öffentlich­keit wird er seit dem Sommer als Sündenbock für die deutsche Blamage durchs Mediendorf getrieben. Das ist nicht gerecht. Ungerecht ist auch, dass Özil beim FC Arsenal ungefähr 400.000 Euro pro Woche verdient, obwohl er recht selten auf dem Platz steht. Aus der Nationalel­f ist er mit großem Theaterdon­ner zurückgetr­eten. Tendenz: Keine Zukunft im DFB-Team.

Miroslav Klose (40) Der Stürmer trat als Rekordtorj­äger des DFB-Teams zurück. Zum Volkshelde­n wie Rudi Völler hat er es nicht gebracht, aber verehrt wird er wegen seiner bescheiden­en Art. Er ist Ehrenbürge­r seiner Geburtssta­dt Opole (Polen), und er trainiert die U17 des FC Bayern München. Tendenz: Klose bleibt still in der zweiten Reihe.

Thomas Müller (29) 2010 und 2014 zerschoss er zuverlässi­g die Tornetze bei den WM-Turnieren. In Russland lief der Wettbewerb an ihm genauso vorbei wie an den Kollegen. Die Selbstvers­tändlichke­it, mit der er in früheren Jahren immer genau den Platz auf dem Rasen fand, an dem es gleich gefährlich wird, hat er einstweile­n verloren. Müller muss um sein Dasein viel mehr kämpfen als früher. Tendenz: Selbst bei den Bayern droht die zweite Reihe.

Mario Götze (26) Mit dem Siegtor von Rio tat er einer ganzen Nation den größten vorstellba­ren Gefallen. Sich und seiner Karriere wohl nicht, denn fortan erwarteten die Welt und er selbst Wunderding­e. Körper und Geist spielten dabei bald nicht mehr mit. Erst der neue Dortmunder Trainer Lucien Favre scheint den richtigen Ausweg zu finden, er macht Götze zu einem normalen Spieler, der mal in der Startaufst­ellung steht und mal auf der Bank sitzt. Tendenz: Rückkehr in die Nationalel­f nicht ausgeschlo­ssen.

Per Mertesacke­r (34) Warf sich im WM-Finale noch eine Minute dazwischen und machte Eindruck damit, dass er im Interview versprach, über die Welt in der Eistonne nachdenken zu wollen. Aus der Karriere als Philosoph ist nichts geworden. Dafür leitet er nach seinem Rücktritt aus dem aktiven Dienst die Fußballaka­demie des FC Arsenal. Tendenz: Ein Mann geht seinen Weg.

André Schürrle (28) Mit seiner Flanke verhalf er Götze zum WM-Tor und Deutschlan­d zum Titel. Sich selbst verschafft­e er tolle Verträge beim FC Chelsea, in Wolfsburg und Dortmund. Beim Premier-League-Kellerkind FC Fulham versucht er, die Klasse zu halten und seinen Marktwert aus dem Keller zu bringen. Tendenz: Beides wird schwierig.

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FOTO: DPA Ein großer Tag: Das deutsche Team feiert mit Trainer Joachim Löw (rechts) den WM-Titel 2014 in Rio.

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