Putsch-Protokoll wirft Fragen auf
Ein Schreiben des türkischen Staatsanwalts lässt am Putschversuch 2016 zweifeln.
NIKOSIA Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 besiegelte das Schicksal der Demokratie in der Türkei. Mit harter Hand ging Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan anschließend gegen Kritiker vor und ließ sich in einem Referendum autokratische Vollmachten übertragen. Bis heute sind die Stimmen nicht verstummt, die in dem Umsturzversuch eine gelenkte Operation sehen, um Erdogan diese Machtfülle zu übertragen. Jetzt hat ein exiltürkischer Journalist ein offizielles Protokoll des leitenden Staatsanwaltes in Ankara aus der Putschnacht veröffentlicht, das den Verdacht nährt, die Regierung habe von dem Staatsstreich gewusst und ihn für sich genutzt.
Der freie Journalist Ahmet Dönmez, der das brisante Papier am Montag auf seiner Webseite publizierte, schrieb früher für eine Zeitung der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Obwohl es eindeutige Belege gibt, bestreitet die Gülen-Sekte Beteiligung am Staatsstreich. Das Dokument ist ein offizielles Protokoll der Putschnacht, das der damalige Staatsanwalt Serdar Coskun schrieb und unterzeichnete.
Der Ex-Staatsanwalt, der letztes Jahr in den obersten türkischen Berufungsgerichtshof Yargitay befördert wurde, hat sein Protokoll auf den 16. Juli ein Uhr nachts datiert, rund drei Stunden nach Beginn des Putschversuchs. Um diese Zeit wurde unter anderem auf Basis dieses Papiers damit begonnen, rund 2700 Richter und Staatsanwälte vom Dienst zu suspendieren oder festzunehmen. Diese Auswirkung sowie Datum und Uhrzeit begründen die besondere Brisanz des Protokolls. Denn Coskun listet darin neben authentischen Ereignissen andere auf, die um ein Uhr nachts noch nicht stattgefunden hatten und weitere, die überhaupt nicht eintraten.
Er beschreibt die Bombardierung des Parlaments in Ankara, die um 2:35 Uhr und 3:24 Uhr morgens stattfand, also frühestens anderthalb Stunden nach Abfassung des Protokolls; es gab dort auch keine Toten, wie Coskun fälschlich darlegt. Ohne Zeitangabe schreibt er: „Soldaten umzingelten das Hauptquartier des Nationalen Geheimdienstes (MIT ) in Ankara“und: „Die Geheimdienstabteilung der Polizei wurde bombardiert“. Diese Vorfälle gab es nicht.
Eine vermeintliche Erklärung für die Falschangaben lieferte am Dienstag Journalist Nedim Sener in der regierungsnahen Zeitung Posta. Er schrieb, Coskun habe ihm die Authentizität des Protokolls beglaubigt, aber erklärt, dass er zwar um ein Uhr nachts mit dem Schreiben begonnen, dies dann aber bis sieben Uhr morgens fortgesetzt habe. Sener glaubt ihm und meint, damit bleibe von der angeblichen Brisanz des Papiers nichts übrig. Er greift Enthüller Dönmez an und wirft ihm vor, das Dokument in Gülenisten-Manier „zur Desinformation“zu verwenden und „Lügen“zu verbreiten.
Die Verwicklung der Gülen-Sekte in den Putschversuch macht die Veröffentlichung durch einen ihrer Anhänger problematisch. Dönmez entgegnet, er versuche die Rolle der Bewegung in der Putschnacht aufzuklären. Trotz der Brisanz des Protokolls schweigen die wenigen Oppositionsmedien, um nicht in den Verdacht zu geraten, sich mit den Gülenisten gemein zu machen.
Nur die unabhängige exiltürkische Internetnachrichtenseite Ahvalnews hat inzwischen berichtet. Die Erklärung Serdar Coskuns, er habe das Protokoll um sieben Uhr morgens abgeschlossen, werfe mehr Fragen auf, als sie beantworte, schreibt das Medium. Um diese Zeit müsse er viel genauer als um ein Uhr gewusst haben, was passiert sei, aber er habe trotzdem massenhaft Falschheiten produziert. „Das Protokoll bestätigt, was viele denken: Es war ein Putsch, von dem die Regierung vorher wusste“, sagt Ahvalnews-Redakteur Ergun Babahan.