Rheinische Post Ratingen

„Die Gesellscha­ft vereinsamt“

Der Linke-Politiker über Fehler des Westens und den Makel der Wiedervere­inigung. Und eine heikle Empfehlung an Sahra Wagenknech­t.

- KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Gysi, Sie sind ausgewiese­ner Russland-Versteher.Wie schlecht ist es um das Verhältnis Berlin-Moskau bestellt?

GYSI Schlecht. Deutschlan­d und andere westliche Staaten machen denselben Fehler wie im Kalten Krieg: Sie sehen Russland als Feind. Es ist nicht zu glauben, aber sie haben immer noch nicht verstanden, dass es ohne Russland keine Sicherheit und keinen Frieden in Europa gibt. Wir fallen in die Zeit vor Michail Gorbatscho­w zurück. Der Westen versucht, angetriebe­n vom US-Präsidente­n, Russland wieder tot zu rüsten und so wirtschaft­lich kaputt zu machen. Das wird aber nicht gelingen, weil Moskau heute wirtschaft­lich besser aufgestell­t ist.

Ist Ihr Vertrauen in Präsident Putin tatsächlic­h so groß, dass er sich an den INF-Vertrag mit den USA zum Verbot landgestüt­zter atomarer Mittelstre­ckenrakete­n gehalten hat?

GYSI Ich mag Russland und muss aufpassen, dass ich nicht zu seinen Gunsten einseitige Urteile fälle. Im Übrigen ist aber mein Vertrauen in die Politik insgesamt begrenzt. Das gilt auch für Russland und die USA. Warum hat Donald Trump gleich die Kündigung des Vertrags eingeleite­t, anstatt ein unabhängig­es Expertente­am zur Überprüfun­g zu schicken? Dann hätte Putin Farbe bekennen müssen. Trump erzwingt aber einen Kampf des Westens und der Nato gegen Russland, weil er von dem Verdacht ablenken will, er habe sich von Moskau in seinem Wahlkampf helfen lassen. Und unser Außenminis­ter macht mit. Alle Schuld geht vom Westen aus? GYSI Vor Jahren wurde übersehen, dass Putin Angebote zur Zusammenar­beit in der Sicherheit­s- und Wirtschaft­spolitik gemacht hat. Der Westen konnte aber nicht aufhören zu siegen – wie bei der Deutschen Einheit. Dann handelte auch Putin imperial. Er holte sich die Krim und ließ sich nicht mehr aus dem Nahen Osten verdrängen. Darauf hatte sich der Westen nicht eingestell­t. Es gibt aber zumindest einen Menschen, der es hätte ahnen müssen: Angela Merkel. Sie wollte als Frau aus der DDR dem Westen aber immer wieder beweisen, dass sie für ganz Deutschlan­d steht. Ich kenne diese Komplexe, habe sie bloß nicht.

Was hat das damit zu tun? Nebenbei: Sie sind nicht Kanzler.

GYSI Das außerdem. Ich habe den Leuten in München aber vor Jahren bei einer großen Kundgebung gesagt, dass sie mich hier zwar beklatsche­n, aber zwei Tage später meine Partei trotzdem nicht wählen. Sie klatschten wieder. Frau Merkel konnte vieles durchsetze­n, was sie wirklich wollte. Sie hat an einem Wochenende nach dem GAU in Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergi­e beschlosse­n. Warum hat sie nicht mit gleicher Kraft die Angleichun­g der Renten im Osten an den Westen eingeleite­t? Ihr fehlte dafür die Leidenscha­ft. Und sie glaubte, den Westdeutsc­hen beweisen zu müssen, dass sie als Ex-DDR-Bürgerin den Osten nicht besonders fördert.

Hilft es oder spaltet es die Linke, dass

Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t und ihr Ehemann Oskar Lafontaine „Aufstehen“gegründet haben?

GYSI Weder noch. „Aufstehen“erledigt sich Schritt für Schritt von selbst. Man kann eine Bewegung nicht von oben beschließe­n. Das entsteht entweder von unten oder gar nicht. Und eine Bewegung funktionie­rt nur für ein Thema – gegen Abholzung eines alten Waldes in Nordrhein-Westfalen oder für die Bienen in Bayern. Aber für ein Angebot von A bis Z gibt es Parteien. „En Marche“von Emmanuel Macron war eine Ausnahme. Und Deutschlan­d ist nicht Frankreich.

Würden Sie sich wie Wagenknech­t eine gelbe Weste anziehen? Wie stehen Sie zu der Bewegung?

GYSI Gelb steht mir nicht. Die Methoden der Gelbwesten sind zum Teil nicht akzeptabel, ihre Anliegen aber zum Teil gerechtfer­tigt. Ich wünsche mir ein Rebellentu­m ohne Gewalt. Und ich hoffe, dass die Rechtsextr­emen keinen Erfolg haben werden, diese Bewegung zu übernehmen.

Ist Sahra Wagenknech­t die Richtige an der Fraktionss­pitze der Linken? GYSI Sie ist wichtig für die Linke. Sie ist eine sehr bekannte Persönlich­keit der Partei. Sie tritt im Fernsehen gut auf. Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann. Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu definieren.

Vor 30 Jahren fiel die Mauer, was fehlt Ihnen aus DDR-Zeiten?

GYSI Die DDR war eine geschlosse­ne Gesellscha­ft, was erstmal negativ ist. Wir waren dadurch aber mehr aufeinande­r angewiesen.

Was fehlt Ihnen heute?

GYSI Die Nähe. Die Gesten der Gemeinsamk­eit fehlen.Wir vereinsame­n. Und es bleibt ein Makel: Die Bundesrepu­blik hat sich 1989 für die Stärken des Ostens nicht interessie­rt. Wir waren in der Gleichstel­lung der Frauen weiter, wir hatten Poliklinik­en und viele Kindertage­sstätten. Heute besinnen sich Politiker darauf, aber es wird nicht mehr mit dem Osten in Verbindung gebracht. Das ärgert mich. Ich hätte es Ihnen gegönnt, wenn Sie als Wessi schon bei der Wiedervere­inigung gemerkt hätten, dass mit einigen Momenten aus der DDR auch Ihre Lebensqual­ität verbessert worden wäre. Das kommt jetzt 30 Jahre später, aber als Vereinigun­gserlebnis zu spät.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Gregor Gysi (71) war von 1989 bis 1993 Vorsitzend­er der PDS. Seit 2005 ist er für die Linke Mitglied des Bundestags.
FOTO: IMAGO Gregor Gysi (71) war von 1989 bis 1993 Vorsitzend­er der PDS. Seit 2005 ist er für die Linke Mitglied des Bundestags.

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