„Die Gesellschaft vereinsamt“
Der Linke-Politiker über Fehler des Westens und den Makel der Wiedervereinigung. Und eine heikle Empfehlung an Sahra Wagenknecht.
Herr Gysi, Sie sind ausgewiesener Russland-Versteher.Wie schlecht ist es um das Verhältnis Berlin-Moskau bestellt?
GYSI Schlecht. Deutschland und andere westliche Staaten machen denselben Fehler wie im Kalten Krieg: Sie sehen Russland als Feind. Es ist nicht zu glauben, aber sie haben immer noch nicht verstanden, dass es ohne Russland keine Sicherheit und keinen Frieden in Europa gibt. Wir fallen in die Zeit vor Michail Gorbatschow zurück. Der Westen versucht, angetrieben vom US-Präsidenten, Russland wieder tot zu rüsten und so wirtschaftlich kaputt zu machen. Das wird aber nicht gelingen, weil Moskau heute wirtschaftlich besser aufgestellt ist.
Ist Ihr Vertrauen in Präsident Putin tatsächlich so groß, dass er sich an den INF-Vertrag mit den USA zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen gehalten hat?
GYSI Ich mag Russland und muss aufpassen, dass ich nicht zu seinen Gunsten einseitige Urteile fälle. Im Übrigen ist aber mein Vertrauen in die Politik insgesamt begrenzt. Das gilt auch für Russland und die USA. Warum hat Donald Trump gleich die Kündigung des Vertrags eingeleitet, anstatt ein unabhängiges Expertenteam zur Überprüfung zu schicken? Dann hätte Putin Farbe bekennen müssen. Trump erzwingt aber einen Kampf des Westens und der Nato gegen Russland, weil er von dem Verdacht ablenken will, er habe sich von Moskau in seinem Wahlkampf helfen lassen. Und unser Außenminister macht mit. Alle Schuld geht vom Westen aus? GYSI Vor Jahren wurde übersehen, dass Putin Angebote zur Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik gemacht hat. Der Westen konnte aber nicht aufhören zu siegen – wie bei der Deutschen Einheit. Dann handelte auch Putin imperial. Er holte sich die Krim und ließ sich nicht mehr aus dem Nahen Osten verdrängen. Darauf hatte sich der Westen nicht eingestellt. Es gibt aber zumindest einen Menschen, der es hätte ahnen müssen: Angela Merkel. Sie wollte als Frau aus der DDR dem Westen aber immer wieder beweisen, dass sie für ganz Deutschland steht. Ich kenne diese Komplexe, habe sie bloß nicht.
Was hat das damit zu tun? Nebenbei: Sie sind nicht Kanzler.
GYSI Das außerdem. Ich habe den Leuten in München aber vor Jahren bei einer großen Kundgebung gesagt, dass sie mich hier zwar beklatschen, aber zwei Tage später meine Partei trotzdem nicht wählen. Sie klatschten wieder. Frau Merkel konnte vieles durchsetzen, was sie wirklich wollte. Sie hat an einem Wochenende nach dem GAU in Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Warum hat sie nicht mit gleicher Kraft die Angleichung der Renten im Osten an den Westen eingeleitet? Ihr fehlte dafür die Leidenschaft. Und sie glaubte, den Westdeutschen beweisen zu müssen, dass sie als Ex-DDR-Bürgerin den Osten nicht besonders fördert.
Hilft es oder spaltet es die Linke, dass
Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und ihr Ehemann Oskar Lafontaine „Aufstehen“gegründet haben?
GYSI Weder noch. „Aufstehen“erledigt sich Schritt für Schritt von selbst. Man kann eine Bewegung nicht von oben beschließen. Das entsteht entweder von unten oder gar nicht. Und eine Bewegung funktioniert nur für ein Thema – gegen Abholzung eines alten Waldes in Nordrhein-Westfalen oder für die Bienen in Bayern. Aber für ein Angebot von A bis Z gibt es Parteien. „En Marche“von Emmanuel Macron war eine Ausnahme. Und Deutschland ist nicht Frankreich.
Würden Sie sich wie Wagenknecht eine gelbe Weste anziehen? Wie stehen Sie zu der Bewegung?
GYSI Gelb steht mir nicht. Die Methoden der Gelbwesten sind zum Teil nicht akzeptabel, ihre Anliegen aber zum Teil gerechtfertigt. Ich wünsche mir ein Rebellentum ohne Gewalt. Und ich hoffe, dass die Rechtsextremen keinen Erfolg haben werden, diese Bewegung zu übernehmen.
Ist Sahra Wagenknecht die Richtige an der Fraktionsspitze der Linken? GYSI Sie ist wichtig für die Linke. Sie ist eine sehr bekannte Persönlichkeit der Partei. Sie tritt im Fernsehen gut auf. Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann. Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu definieren.
Vor 30 Jahren fiel die Mauer, was fehlt Ihnen aus DDR-Zeiten?
GYSI Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, was erstmal negativ ist. Wir waren dadurch aber mehr aufeinander angewiesen.
Was fehlt Ihnen heute?
GYSI Die Nähe. Die Gesten der Gemeinsamkeit fehlen.Wir vereinsamen. Und es bleibt ein Makel: Die Bundesrepublik hat sich 1989 für die Stärken des Ostens nicht interessiert. Wir waren in der Gleichstellung der Frauen weiter, wir hatten Polikliniken und viele Kindertagesstätten. Heute besinnen sich Politiker darauf, aber es wird nicht mehr mit dem Osten in Verbindung gebracht. Das ärgert mich. Ich hätte es Ihnen gegönnt, wenn Sie als Wessi schon bei der Wiedervereinigung gemerkt hätten, dass mit einigen Momenten aus der DDR auch Ihre Lebensqualität verbessert worden wäre. Das kommt jetzt 30 Jahre später, aber als Vereinigungserlebnis zu spät.