Die Suche nach der perfekten Scheibe Schinken
Nicht zu dick, nicht zu dünn, nicht zu mager, nicht zu fett: Aithor Ruiz’ Aufgabe ist es, das Messer perfekt am Schinken anzusetzen.
Sie ist drei oder vier Zentimeter breit und wenige Millimeter dünn. Hauptsächlich besteht sie aus Muskelfleisch, nur maximal ein Drittel ist Fett. Sie auf ein gebuttertes Brötchen oder Vollkornbrot zu legen, wäre grundfalsch. Sie hat nichts gemein mit den dicken, fettgeränderten Scheiben, die die meisten Deutschen zum Frühstück oder Abendbrot essen. Sehr dünn geschnittenes, leicht getoastetes Brot wäre ihr perfekter Begleiter, aber nur zum Gaumen neutralisieren zwischendurch. Vielleicht isst man auch Kirschtomaten oder ein paar Oliven dazu, am besten aber genießt man sie so, und zwar nicht etwa gerollt, gefaltet oder gar gestapelt, nein: Man fasst sie sanft mit zwei Fingern, lässt sie lang herunterhängen und von oben in den geöffneten Mund gleiten, in etwa so, wie Holländer Matjes essen. Die Wärme der Zunge schmilzt das Fett, die Aromen werden freigesetzt: Wald, Erde, Salz, irgendwie männlich ist dieser Geschmack, wild und dunkel. Wie kann etwas, das so elegant aussieht, so archaisch schmecken?
Wenn es einer weiß, dann Aithor Ruiz. Schinken ist sein Beruf und seine Berufung. Als er jung war, hatte seine Familie einige Restaurants und Delikatessenläden in Katalonien. Mit 16 Jahren fing er an, den Schinken zu schneiden. Und tut es noch heute, mit 41 Jahren.
Schinken schneiden klingt banal – ist es aber nicht. In Spanien ist es ein Ausbildungsberuf. Niemals würde Aithor Ruiz mit einem Ibérico-Schinken auch nur in die Nähe einer Aufschnittmaschine kommen. „Maschinen zerstören alles“, sagt er. Allein schon, weil man wegen der Form des Schinkenbeins vertikal statt horizontal zur Faser schneiden würde. Die Reibungswärme der Maschine würde die Muskelfasern dann vollends zerreißen und der Textur den Rest geben.
Nein, Ruiz benutzt Messer. Vier Stück. Mit dem Puntilla, einer kurzen, steifen Klinge, werden Hilfsschnitte ausgeführt. Ein flexibles Messer benutzt er für die Stellen rund um den Knochen, ein gröberes für die Schwarte. Sein eigentliches Schinkenmesser verwendet er nur, um die hauchdünnen Scheiben herunterzusäbeln. Es ist etwa 30 Zentimeter lang und er schärft es drei bis vier Mal am Tag mit der Hand und einmal die Woche mit der Schleifmaschine. Die Klinge, die einmal vollständig war, hat mittlerweile eine breite Aussparung in der Mitte. Dort, wo das Messer so schmal ist, hat er es wieder und wieder geschliffen.
Wenn Aithor Ruiz den Schinken schneidet, dann liegt das Bein des Schweins eingespannt vor ihm, der Schweinehuf reckt sich weg von ihm, und Ruiz zieht das Messer über den fleischigen Teil der Keule,
„Je schlanker die Fessel, desto köstlicher der Schinken“
Aithor Ruiz Schinkenmeister
ganz gleichmäßig, sehr schnell. Er will, dass die Scheibe überall gleich dick ist und den perfekten Anteil Fett enthält. Die wichtigste Entscheidung, die er mit dem Kopf treffen kann, ist daher, wo genau er das Messer ansetzt. Der Rest ist Körperarbeit. „Man braucht eine ruhige Hand“, sagt er. „Man muss mit Liebe schneiden.“
Für den Titel „Cortador profesional de Jamón“oder „Maestro Jamónero“besuchte Ruiz eine „Schola de Cortadores“. Er lernte alles über das Ibérico-Schwein, dieses dunkle Tier, das frei in Eichelhainen herumläuft, manchmal 15 Kilometer am Tag, um Nahrung und Wasser zu finden, das Kräuter, Wurzeln, Gras und Eicheln frisst und dessen Fleisch dadurch muskulös und durchzogen von feinem Fett ist – und trotzdem, behauptet Aithor Ruiz, im Gegensatz zu den meisten Fleisch- und Wurstwaren ziemlich gesund, weil der Anteil an gesättigten Fettsäuren sehr niedrig ist. Er lernte, dass es bei einem guten Ibérico-Schinken nicht nur auf die inneren Werte ankommt, sondern dass man die Qualität schon an der Ästhetik des Beins erkennen kann. „Je schlanker die Fessel, desto köstlicher der Schinken.“Er lernte, dass ein abgelaufener Huf ein gutes Zeichen ist, weil sich das Schwein viel bewegt hat, und wie ein guter Schinken sich anfühlt, wenn man ein wenig zudrückt – fest, weil das Fleisch während des langen Reifeprozesses
Wasser verliert, aber auch weich, weil das Salz die Eiweißstränge spaltet und Enzyme die Proteine zu Peptiden und Aminosäuren zersetzen, zu Geschmacksmolekülen, die in der feinen Schinkenscheibe stecken, deren Form Aithor Ruiz zu perfektionieren übte wie ein Zenmeister, immer und immer wieder. „Manche mögen das langweilig finden“, sagt er. „Ich liebe es.“Er lernte, dass das Fett eines guten Schinkens sich wie Hautcreme anfühlt, wenn man es zwischen zwei Fingern zerreibt, und schließlich lernte er, wie man am Knochen prüft, was der Schinken in seinem Inneren zu bieten hat – ob sich die jahrelange Reifezeit (zwischen 12 und 38 Monaten sind möglich) ausgezahlt hat oder ob sich Schimmel oder Ungeziefer festgesetzt haben. „Wenn ein Schinken ein Problem hat, dann am Knochen“, sagt Ruiz weise.
2007 machte er die Prüfung, schnitt unter strengster Beobachtung einen Teller Schinken. Seitdem trägt er ein offizielles Zertifikat bei sich, das ihm beispielsweise erlaubt, mit seinen Messern ein Flugzeug zu besteigen. Viele Jahre trat er bei Events und Messen auf, in Katalonien, Frankreich, schließlich in Deutschland. Irgendwann beschloss er, dauerhaft nach Deutschland zu kommen. Zum Geld verdienen, aber auch mit einer Mission: „Ich fand, dass die Menschen hier in Deutschland nicht genug über Schinken wissen“, sagt er. „Ich habe eine Möglichkeit gesehen, den Menschen zu zeigen, was Schinkenkultur bedeutet.“Denn Jamón – das ist für ihn nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern auch ein Stück Heimat. „Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es einen Schinken wie den Ibérico“, sagt er ernst. „Schinken ist unser Ding in Spanien.“
Inzwischen arbeitet er schon fast ein Jahr im Zurheide-Supermarkt an der Berliner Allee, seine Frau und seine zweijährige Tochter wohnen mittlerweile auch in Düsseldorf. Ruiz will nun mehr Deutsch lernen und vielleicht in Zukunft auch Kurse im Schinkenschneiden anbieten. Bis dahin überzeugt er die Düsseldorfer auch sehr wirksam von der Schinkenkultur, indem er an seiner Theke ein Spezialgericht serviert: „Jamón Aithor“, dünn geschnittenen Ibérico mit Tomate, weißem Balsamico, Parmesan, Oregano und schwarzem Pfeffer.