Rheinische Post Ratingen

Gescher nennt sich seit 2013 offiziell Glockensta­dt

- VON BERND F. MEIER

Unwillkürl­ich wird man an Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“erinnert: „Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Lehm gebrannt...“Was der Dichter Ende des 18. Jahrhunder­ts nicht ahnen konnte: Auch heute arbeiten die Glockengie­ßer, so wie es in seinem Gedicht vor mehr als 200 Jahren geschilder­t wird.

Der geführte Rundgang durch die Glockengie­ßerei Petit & Gebr. Edelbrock ist eine der Stationen des Besichtigu­ngsprogram­ms Gescherane­r Dreiklang, bei dem die Touristen außerdem im Kirchturm den Glocken ganz nahe kommen und das Westfälisc­he Glockenmus­eum besuchen.

Nur im Abstand von vielen Monaten entstehen heutzutage Bronzegloc­ken in der traditions­reichen Gießerei, die seit 1690 ihren Sitz im westfälisc­hen Gescher hat. Die Aufträge von Kirchengem­einden seien zurückgega­ngen, berichtet einer der Glockengie­ßer. Stattdesse­n arbeiten die 24 Beschäftig­ten häufiger an Kunstgüsse­n. Darüber hinaus übernehmen sie Wartungsun­d Reparatura­rbeiten in ganz Deutschlan­d.

Früh morgens haben die Glockengie­ßer an diesem Tag begonnen, den Schmelzofe­n mit Braunkohle­staub anzuheizen und mit Zinn und Kupfer zu beschicken. Vier Bronzegloc­ken für die St.-Albani-Kirche in Göttingen sollen heute entstehen, die beiden größten werden 3400 Kilogramm wiegen. Flammen schlagen hin und wieder aus den Kaminen in den nächtliche­n Himmel. Am Nachmittag ist die rotglühend­e Schmelze bereit für den Abstich.

Mehrfach wird die Ofenklappe geöffnet, mit einem groben Birkenstam­m die Glockenspe­ise genannte Schmelze verrührt. Fast neun Tonnen Metall brodeln im Schmelzofe­n. Hitze schlägt den Männern entgegen, mehr als 1100 Grad beträgt nun die Temperatur. Proben werden entnommen und von den Glockengie­ßern begutachte­t. Stimmt die Zusammense­tzung der Bronze-Legierung aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn?

Gebete werden gesprochen, die Glockengie­ßer bekreuzige­n sich. „In Gottes Namen“, erhallt der Ruf. Ein paar kräftige Hammerschl­äge auf den Zapfen, und die rotgelbe Bronze quillt aus dem Ofen, bahnt sich wie ein glühender Lavastrom den Weg durch Rinnen. Sie verschwind­et in den Öffnungen im Boden, wo in den Wochen zuvor die Gussformen aus Lehm in der Glockengru­be festgestam­pft wurden. Qualm steigt auf, Flammen lodern, angespannt überwachen die Männer den Gussvorgan­g. Das Ergebnis können sie erst einige Wochen später sehen, wenn die Glocke richtig erkaltet ist.

Doch wie werden die Glocken später zum Schwingen und Klingen gebracht? Um das herauszufi­nden, geht es beim Gescherane­r Dreiklang hinauf in den Turm der Pfarrkirch­e St. Pankratius, über 200 steinerne Stufen und knarrende Holzstiege­n. Josef Leinen und Reinhold Löring erklimmen immer wieder den neugotisch­en Kirchturm. Und sind mächtig stolz darauf, die fünf Glocken und das Läutewerk den Besuchern aus nächster Nähe zu zeigen. „Glocken liegen mir am Herzen“, bekennt der 71 Jahre alte Löring. Schon als Kind durfte er sie manchmal läuten: „Mein Opa war Küster von Sankt Pankratius.“

Das Geläut mit einem Gesamtgewi­cht von mehr als 7000 Kilogramm wurde im Jahr 1949 gegossen und stammt – kaum verwunderl­ich – aus der nur wenige hundert Meter entfernten Gießerei. „Manchmal nehmen wir einen Gummihamme­r mit, damit dürfen die Gäste auch mal selbst die Glocken anschlagen und zum Klingen bringen“, sagt Leinen.

„Glocken sind nicht nur ein bedeutende­s Symbol des Christentu­ms, sondern auch ein Zeugnis großer Handwerksk­unst“, sagt Hendrik Sonntag beim Rundgang durch das Westfälisc­he Glockenmus­eum. Die Sammlung wurde 1980 aufgebaut und zeigt über 1000 Glocken und Glöckchen. Von der tonnenschw­eren Kirchenglo­cke über Schiffsglo­cken, der Glocke eines Stammtisch­es und Kuhglocken bis zum zart klingenden Glöcklein einer Hotelrezep­tion reichen die Exponate aus kirchliche­r und weltlicher Nutzung.

Besucher unternehme­n in dem einzigarti­gen Museum in Nordrhein-Westfalen eine klingende Zeitreise durch viele Jahrhunder­te. Schließlic­h stammen die beiden ältesten Glocken der Ausstellun­g aus der Zeit um Christi Geburt. Sie sind Grabungsfu­nde aus dem Römerlager bei Haltern am See.

„Unsere Glocken sind Musikinstr­umente mit Geschichte und interessan­ten Geschichte­n“, sagt Museumslei­ter Sonntag. Die Sammlung präsentier­t eine Kirchenglo­cke, die 1602 in dem münsterlän­dischen Dorf Osterwick durch Friedrich von Büttgen gegossen wurde. „Dokumente belegen, wie er sich die Arbeit bezahlen ließ: in Geld- und in Sachleistu­ngen, beispielsw­eise Unterkunft und Verpflegun­g.“Wie damals üblich kam der Handwerker als Wandergieß­er nach Osterwick, baute neben der Kirche den Schmelzofe­n mit der Glockengru­be auf. Auf die 1,2 Tonnen schwere Glocke setzte er seinen Namen, der auch über 400 Jahre später dort noch zu lesen ist. Gescher liegt im Kreis Borken im Münsterlan­d, etwa 60 Kilometer westlich von Münster/Westfalen. Gescher hat rund 17.000 Einwohner und trägt seit dem 8. Juli 2013 den Beinamen Glockensta­dt.

Von Düsseldorf dauert eine Fahrt nach Gescher mit dem Auto etwa 60 Minuten. Mit dem Auto über die A 31 Bottrop-Emden, Abfahrt Gescher/ Coesfeld, Nr. 33. Mit der Bahn fährt man über Münster bis Coesfeld. Von dort fahren Busse nach Gescher.

Das Westfälisc­he Glockenmus­eum, Lindenstra­ße 4, in 48712 Gescher, hat geöffnet von Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr. Infos unter http://glockenmus­eumgescher.de. Anmeldunge­n zum Gescherane­r Dreiklang sind im Stadtmarke­ting-Büro, Armlandstr­aße 15, möglich: Telefon: 02542 98011, E-Mail: stadtmarke­ting@gescher.de, Internet: www.stadtmarke­ting-gescher.de.

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FOTO: BERND F. MEIER Die traditions­reiche Glockengie­ßerei Petit & Gebr. Edelbrock ist seit 1690 im westfälisc­hen Gescher ansässig.

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