Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Am 19. Januar 1951 waren Libby und Bill Harvey bei den Philbys zu einem Abendessen in der Nebraska Avenue eingeladen. Es waren noch ein paar Bekannte von der CIA anwesend, unter anderem Philbys „bester“Freund James Angleton mit seiner Frau. Die Dinnerparty verlief normal, bis zu dem Zeitpunkt, als Burgess unerwartet ins Zimmer torkelte. Woher er genau an diesem Abend kam, war nicht klar, aber er wohnte immer noch bei den Philbys und war vielleicht nur auf der Suche nach seinem Bett. Libby Harvey schien begeistert zu sein, ihn kennenzulernen, und stürzte sich auf ihn. Sie war bereits leicht beschwipst und verlangte von Burgess jetzt, sofort und auf der Stelle gezeichnet zu werden.
Es war in Washington bekannt, dass Burgess ein Talent für kleine Porträtskizzen hatte. Er war schon oft gebeten worden, seine Gastgeber zu zeichnen, er benutzte es als seinen kleinen Partytrick. Das Problem an diesem Abend war jedoch, dass Burgess nicht nur ziemlich betrunken, sondern auch sehr schlechter Laune war. Und so nutzte er die Gelegenheit, um Dampf abzulassen. Es war keine gute Idee, und Philby wie Burgess würden diesen Abend noch Jahre später bereuen. Die Karikatur, die er von Libby Harvey anfertigte, ist nicht erhalten geblieben, aber Erzählungen zufolge war sie durchaus erinnerungswürdig. Das Verletzende daran scheint nicht die Tatsache gewesen zu sein, dass er Libbys Gesicht zu grotesken Zügen verzerrte, sondern dass er sie halbnackt malte, mit breit gespreizten Beinen und einer alles andere als verlockenden Vagina.
Aus diesem Grund war es verständlich, dass Mrs. Harvey in Tränen ausbrach, und es war auch verständlich, dass Mr. Harvey sehr, sehr wütend wurde. Auch wenn er Philbys gestotterte Entschuldigung annahm, vergab er nichts. Ganz im Gegenteil. Er würde Philby einige Monate später beschuldigen, ein Sowjetagent zu sein. Das lag natürlich nicht nur an den umstrittenen Malkünsten von Burgess, sondern auch an einer genauen Analyse aller vorhandenen Indizien, die Bill Harvey nach diesem verhängnisvollen Dinner sammelte.
Das Abendessen ging in die Geschichte der Washingtoner Gesellschaft als eine der katastrophalsten Einladungen ein, die in dieser Stadt je stattgefunden hatten. Da an Washingtoner Abendessenstischen einiges vorfiel, war dies eine außergewöhnliche Leistung.
Abgesehen von Mrs. Philby und der gesamten Washingtoner Gesellschaft hatte Burgess sich auch seinen neuen Vorgesetzten, den Botschafter Sir Oliver Franks, zum Feind gemacht. Der Botschafter galt als relativ liberaler Chef, aber für Burgess war er sicher nicht liberal genug. Franks erhielt bald eine Kette von Beschwerden über seinen neuen Mitarbeiter.
Die meisten kamen von der Washingtoner Polizei, die Burgess immer wieder betrunken aufgriff. In London hatten seine Freunde ihn in solchen Situationen schützen können, aber in Washington besaß Burgess kein derartiges Netzwerk. Seine Immunität als Diplomat bewahrte ihn vor dem Schlimmsten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur Explosion kommen würde. Philby versuchte immer wieder, für Burgess zu vermitteln, seine Arbeit ließ ihm jedoch nicht viel Zeit. Da Amerika und Großbritannien sich mit der Sowjetunion im Koreakrieg befanden, waren Philbys Informationen in dieser Zeit für Moskau besonders wichtig. Gleichzeitig existierte ein Projekt, das die Amerikaner und Briten gemeinsam betrieben und das die Russen besonders beunruhigte – VENONA.
Die Steinstufen des Reform Club waren Wera mittlerweile zu kalt. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, in den Club hineinzukommen. Sie könnte dem Pförtner erzählen, sie schreibe an einer Doktorarbeit über Clubarchitektur des neunzehnten Jahrhunderts oder irgendetwas in der Art. Aber mit ihren Jeans und der Computertasche würde man sie wohl eher für eine fantasiebegabte Touristin halten. Sie entschied sich, in Richtung St. James‘s Park zu gehen und dort weiterzuarbeiten.
Das Geheimprojekt VENONA war der Grund dafür, dass Burgess im Mai 1951 im Reform Club einen Mittagstisch buchte.
Der Name Venona erinnert an eine Stadt in Italien, aber VENONA stand für ein neues Entschlüsselungsprogramm der Amerikaner und Briten. Ziel von VENONA war es, alle Nachrichten, die die sowjetischen Konsulate und Botschaften bis 1945 aus Amerika geschickt hatten, zu entschlüsseln.
Wenn diese Entschlüsselung gelang, wäre es eine potenzielle Katastrophe für viele KGB-Agenten, die im Westen arbeiteten. Der Mann, der VENONA am Ende zum Erfolg führte, war ein Amerikaner namens Meredith Gardner. Mit unendlicher Geduld hatten Gardner und sein Team seit 1946 die Puzzlesteine mehrerer verschlüsselter Botschaften zusammengesetzt. Philby unternahm alles, um zu erfahren, wie weit sie gekommen waren. Er tat, was er am besten konnte: Er versuchte, das Vertrauen von Meredith Gardner zu gewinnen. Wie so oft war der versierte Menschenfänger Philby ausgesprochen erfolgreich. Er schaffte es, Gardners bester neuer Freund zu werden, und besuchte ihn häufig bei der Arbeit. Gardner berichtete ihm stolz von seinen Fortschritten und zeigte ihm die neuesten Entschlüsselungen. Er hatte keinen Grund, Philby zu misstrauen. Schließlich arbeiteten sie an einem gemeinsamen amerikanisch-britischen Projekt, und es kursierte das Gerücht, Philby würde eines Tages vielleicht sogar Chef des MI6 werden. Mit einem einflussreichen Mann wie Philby befreundet zu sein war für den schüchternen Gardner daher nicht nur eine Freude, sondern möglicherweise sogar karrierefördernd. Ihre Freundschaft wurde umso intensiver, je mehr Material Gardner entschlüsselte.
Mittlerweile konnte er zahlreiche Nachrichten der Russen lesen, aber das bedeutete noch nicht, dass man sowjetische Spione sofort enttarnen konnte. Ihre Decknamen änderten sich zu oft. Wer zum Beispiel war dieser Engländer, den die Russen „Homer“nannten und der 1944 in der britischen Botschaft in Washington gearbeitet hatte?
Gardner konnte den Klarnamen nicht eruieren, aber Philby ahnte bald, dass hinter „Homer“Donald Maclean stecken musste. Er meldete seine Vermutung nach Moskau, wo man natürlich genau wusste, wer sich hinter Homer verbarg.