Lügde: Frühe Hinweise auf Pädophilie
Hamelns Landrat räumte im Missbrauchsfall Versäumnisse des Jugendamts ein.
HAMELN (dpa/RP) Es waren nicht nur die vermüllte Behausung auf dem Campingplatz und der große Altersunterschied: Trotz mehrfacher Hinweise auf Pädophilie hat das Jugendamt von Hameln (Niedersachsen) einen heute 56-Jährigen als Pflegevater für ein kleines Mädchen eingesetzt. Der Mann gilt als Hauptverdächtiger im Fall von tausendfachem Kindesmissbrauch mit mindestens 34 Opfern in Lügde.
Hamelns Landrat Tjark Bartels (SPD) räumte am Dienstag ein, dass schon 2016 eine Jobcenter-Mitarbeiterin, ein anderer Vater sowie eine Kindergarten-Psychologin den Verdacht auf sexuell übergriffiges Verhalten geäußert hätten. Diese Hinweise seien in den Akten vermerkt. In der Vergangenheit hatte der Landrat darauf verwiesen, dass sich die Akten noch bei der Staatsanwaltschaft befinden.
Der arbeitslose Dauercamper soll gemeinsam mit einem Komplizen über Jahre hinweg Kinder missbraucht und dabei gefilmt haben. Sein Pflegekind soll er eingesetzt haben, um andere Opfer anzulocken. Der 56-Jährige sitzt seit Ende 2018 in Untersuchungshaft, kurz danach wurden ein 33-Jähriger aus Steinheim sowie ein 48-Jähriger aus Stade festgenommen. Der Stader soll den Kindesmissbrauch im Internet live verfolgt haben. Anfang 2017 hatte der Campingplatz-Bewohner auf Wunsch der im Kreis Hameln lebenden Mutter die Pflegschaft für die damals Sechsjährige erhalten, die schon länger bei ihm lebte.
Bartels entschuldigte sich am Dienstag erstmals bei den Opfern. Die Hinweise seien nicht in der Gesamtschau gewürdigt worden. Man hätte dem Mann, der als „bolleriger Rheinländer“beschrieben wurde, nicht die Vollzeitpflegschaft übertragen dürfen, sagte er. Allerdings habe es keinen Grund gegeben, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen, das sie bis heute besitzt. Das Mädchen wurde bei der Verhaftung des Pflegevaters in Obhut genommen und wird dem Jugendamt zufolge heute in einer Einrichtung mit Gleichaltrigen betreut und therapiert.
Auch machte der Landrat öffentlich, dass eine Jugendamtsmitarbeiterin kurz vor Beschlagnahmung der Akten durch die Staatsanwaltschaft einen Eintrag gelöscht hatte, den die Ermittler rekonstruieren konnten. Darin wurde dargestellt, dass der Mann immer wieder Kontakt zu jüngeren Mädchen suche und sie in ein Abhängigkeitsverhältnis bringe. Die Frau, die die Löschung zugab, wurde vom Dienst freigestellt. Es ist nicht die erste personelle Konsequenz aus den Vorgängen um Lügde in der Behörde. Weil er einen Vermerk nachträglich einfügte, ist ein weiterer Jugendamtsmitarbeiter schon länger suspendiert.
Am Dienstag meldete zudem der WDR, dass das Jugendamt Lippe weitere Kinder in Obhut genommen haben soll. Demnach sollen zusätzlich zur Pflegetochter des Hauptbeschuldigten fünf Kinder aus ihren Familien genommen worden sein. „Die Kinder sind auf alle Fälle Opfer. Die Eltern könnten Täter sein. Das wird ermittelt. Ein Kind lebte auch in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz“, sagte Jugendamtsleiter Karl-Eitel John gegenüber dem Sender. Es bestehe der Verdacht, dass die Kinder dem mutmaßlichen Täter zum Missbrauch zugeführt worden seien. Gegen zwei Eltern ermittelt die Staatsanwaltschaft. Weitere Details wurden nicht bekannt.
Der Landkreis Hameln bemühte sich allerdings bei der Pressekonferenz am Dienstag um größtmögliche Transparenz und verteilte eine 75-seitige Darstellung mit Aktenauszügen. 376 Seiten umfasst allein die Akte des Allgemeinen Sozialen Dienstes, der im Frühjahr 2014 erstmals Kontakt zur Mutter des späteren Pflegekindes aufnahm, weil das Mädchen eine verpflichtende Vorsorgeuntersuchung verpasst hatte. Mit der Familie waren der Behörde zufolge zehn bis zwölf Personen in unterschiedlicher Intensität befasst.
Das Zusammenspiel mit dem Jugendamt Lippe und Polizei Lippe im benachbarten NRW sei nicht optimal gewesen, sagte Bartels. In NRW weitet sich das Verbrechen auf dem Campingplatz immer mehr zu einem Polizeiskandal aus. So verschwanden 155 bei dem Dauercamper sichergestellte CDs und DVDs aus einem Asservatenraum.
Derweil steht in NRW erneut ein Polizist im Verdacht, kinderpornografisches Material besessen zu haben. Der Polizist der Kreispolizeibehörde Paderborn sei am vergangenen Freitag suspendiert worden, sagte eine Sprecherin des Düsseldorfer Innenministeriums am Dienstag. Es gebe keine Querverbindungen zum Fall Lügde.
Fünf weitere Kinder sollen aus ihren Familien genommen worden sein