Das Gewissen des deutschen Fußballs
Bayern-Profi Leon Goretzka entwickelt sich zum Charakterkopf seiner Generation. Der gebürtige Bochumer mischt sich ein.
MÜNCHEN Leon Goretzka weiß, dass es mehr gibt als Fußball. Er ist 25 Jahre alt. Er ist Fußball-Profi in Diensten des FC Bayern München. Er ist sehr erfolgreich im Verein und der Nationalmannschaft. Er könnte es dabei belassen und ein ziemlich sorgenfreies Leben führen mit viel Geld und Ruhm. Doch Goretzka tickt anders. Seine Reichweite nutzt er nicht vornehmlich dafür, seiner Anhängerschaft zu demonstrieren, wie oft er eine Rolle Klopapier mit den Füßen oben halten kann. Er nutzt seine Kanäle für eindringliche Botschaften. Gegen Rassismus. Gegen Ungerechtigkeiten. Oder wie in diesen Tagen. Da hat er mit seinem Mitspieler Joshua Kimmich die Initiative „We kick Corona“gegründet. Damit soll karitativen, sozialen oder medizinischen Einrichtungen geholfen werden, die aufgrund der Pandemie auf sofortige Hilfe angewiesen sind. „Corona schlagen wir nur im Team“, sagt Goretzka. Jetzt sei Solidarität im Kleinen wie im Großen notwendig, ergänzt Kimmich.
„Als Profifußballer führen wir ein gesundes und privilegiertes Leben“, befindet Goretzka. „Daher sehen wir uns in dieser schwierigen Zeit verpflichtet, Verantwortung zu übernehmen. Geben und gegenseitig helfen ist das Gebot der Stunde. Wir sind nicht nur Profifußballer, sondern auch Teil unserer Gesellschaft, die mehr denn je aufgefordert ist, zusammenzuhalten und Verantwortung zu übernehmen.“In kürzester Zeit haben sich Mats Hummels, Robert Lewandowski und viele mehr der Bewegung angeschlossen und ebenfalls großzügig die private Schatulle geöffnet. Mehr als drei Millionen Euro sind so bereits zusammengekommen. Tendenz: steigend. Es ist schon ein bemerkenswertes Engagement. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat zusammen in einem separaten Topf 2,5 Millionen Euro gespendet. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, es ginge noch etwas mehr.
Goretzka ist ein Typ. Er hat es recht leicht, sich als solcher in einer Branche zu profilieren, in der es viel zu viele Ja-Sager gibt. Die Diplomaten haben die Oberhand, und dementsprechend weichgespült hören sich auch viele Statements an. Niemand will heutzutage anecken. Die allermeisten schwimmen lieber mit dem Strom. Vor ein paar Wochen hatte er einen freien Tag beim FC Bayern genutzt und das ehemalige Konzentrationslager in Dachau besucht. Fotos davon teilte er auf Instagram. Das erste Motiv zeigt Fritz Koelles Denkmal „Der unbekannte Häftling“. Darunter zu sehen ist die Inschrift „Den Toten zur Ehr, den Lebenden zur Mahnung“. Er nutze deshalb bewusst seine Möglichkeiten, die er als Fußball-Star in den sozialen Netzwerken habe, um die Erinnerung an die Gräueltaten in Deutschland zur NS-Zeit aufrechtzuerhalten. Auch andere Profis rufe er dazu auf, sich klar zu positionieren. Auf die Frage im Interview mit „Dazn“, was der starke Wählerzuwachs der rechtspopulistischen Partei in den vergangenen Jahren bei ihm auslöse, sagt er: „Sorge. Man fasst sich an den Kopf und fragt sich, wie das passieren kann. Ich denke aber, dass viele Leute nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Alternativen die AfD wählen.“Goretzka geht selten den einfachen Weg. Er vertraut seinem Kompass und einem erfahrenen Beraterstab.
Betreut wird er von Werbeprofi Raphael Brinkert.
Beim VfL Bochum hat er einst seine Karriere begonnen. Machte dann beim FC Schalke 04 die ersten Schritte auf größerer Bühne und spielt seit fast eineinhalb Jahren nun beim deutschen Rekordmeister. Von vielen ist er lange unterschätzt worden. Sein Spiel ist nicht geprägt von Fanfare und Lametta. Er ist effektiv, wenige Aktionen sind dafür da, um das Publikum zum Staunen zu bringen, er zieht die Fäden. Immer mehr. In München hat es ein wenig Anlaufzeit gebraucht, doch mittlerweile bekommt er immer mehr Platz. Sein Vorteil: Er ist sehr variabel einsetzbar. Von seinem ehemaligen Trainer Peter Neururer wurde er als 18-Jähriger als Jahrhunderttalent geadelt. Immer wieder setzten ihm indes Verletzungen zu.
Goretzka hat immer wieder unter Beweis gestellt, dass er mehr ist als nur Fußballer. In diesen Tagen zeigt er seine größte Stärke: seine soziale Kompetenz.