Wie die Mafia von der Corona-Krise profitieren will
Ermittler in Italien fürchten, die organisierte Kriminalität könne die Lage ausnutzen – etwa durch Angebote an Unternehmen, die in Not geraten sind.
ROM Das Viertel ZEN im Norden Palermos ist einer der Orte, die Touristen eher meiden. Kleinkriminalität und Drogenhandel sind an der Tagesordnung. Die Cosa Nostra hat hier großen Einfluss, wie überall auf Sizilien, wo die Armut mit Händen zu greifen ist. Die Corona-Pandemie hat die Sache noch schlimmer gemacht. „Die Menschen haben ihre Arbeit verloren, manche arbeiteten in den Bars, andere als Putzfrauen, viele in Schwarzarbeit“, sagt eine Mitarbeiterin des Vereins Bayty Baytik, der mittellosen Menschen in der ZEN, der Zona Espansione Nord, hilft. „Es gibt Familien, die haben nicht einmal mehr die paar Euro, um etwas zum Essen einzukaufen.“
Süditalien ist ein soziales Pulverfass, besonders jetzt. Der Gefahr von
Plünderungen, wie sie bereits in Palermo, Catania und Neapel vorbereitet wurden, entgegnet der Staat mit Polizeipräsenz. Vor vielen Supermärkten in Palermo stehen inzwischen Carabinieri. Doch die Gefahr sozialer Revolten ist nur die eine Seite der Medaille. Italien, insbesondere der ärmere Süden, hat ein weiteres drängendes Problem: die Mafia. Experten rechnen angesichts der zu erwartenden Corona-Rezession mit einem Aufleben der organisierten Kriminalität. „Ich mache mir Sorgen wegen der Situation, die sich im Land abzeichnet“, sagte Innenministerin Luciana Lamorgese.
Die auf die organisierte Kriminalität spezialisierte Abteilung im Innenministerium warnte vor Tagen Polizei und Carabinieri, Mafiaorganisationen könnten die Krise für sich nutzen. Es bestehe das „Risiko von Infiltrationen und der Nutzung von Strohmännern zur Geldwäsche“, zitieren italienische Medien aus einem vertraulichen Dokument. Die gegenwärtige Krise führe zu „weniger Liquidität, einer starken Veränderung der Arbeitsmärkte und dem Fluss vieler Subventionen“, also zu Faktoren, die Cosa Nostra, ’Ndrangheta und Camorra begünstigten. Im Hinblick auf Unterwanderungen seien vor allem folgende Branchen gefährdet: Lebensmittel, Pharma, Tourismus, Gaststätten, Logistik sowie kleine und mittlere Betriebe insgesamt.
Ein Szenario ist etwa das eines Gaststättenbesitzers, der nach wochenlanger Schließung Personal und Miete nicht mehr bezahlen kann und sich deshalb an diejenigen wendet, die trotz Krise noch flüssig sind. Oft sind das die Clans, die etwa Geld aus dem Drogenhandel als „Kredit“reinzuwaschen versuchen. „Die organisierte Kriminalität könnte bald zahlreiche Aktivitäten der legalen Wirtschaft kontrollieren“, fürchtet Staatsanwalt Nino Di Matteo, bis vor Kurzem als Antimafia-Ermittler in Palermo tätig. „Das wäre ein Schritt der Legalisierung der Mafia, den wir unbedingt vermeiden müssen.“In der nationalen Antimafia-Behörde DIA denkt man bereits an den Wiederaufbau: „Es wird sehr viel Geld in Umlauf sein“, sagt DIA-Chef Giuseppe Governale. Die Mafia-Organisationen planten bereits für diese Zeit. Die Ermittler müssten „die Augen offen halten“.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Polizisten werden im Notstand für andere Zwecke gebraucht. Die chronisch überforderte Justiz wird durch die Pandemie nicht entlastet, im Gegenteil. Hunderte Prozesse kamen zum Erliegen. „Die Arbeit der Justiz wird in den kommenden Wochen und Jahren erschwert“, prognostizierte Giuseppe Pignatone, Antimafia-Staatsanwalt und früher Chefermittler in Reggio Calabria und Rom. Aus Sorge vor Ansteckungen
sollen in Italien 2500 Gefangene aus den Haftanstalten in den Hausarrest entlassen worden sein, darunter auch Mafiosi mit geringen Haftstrafen. „Das ist eine Gefahr“, sagte der bekannteste Antimafia-Ermittler Kalabriens, Nicola Gratteri.
Dass die Mafia, die bereits unter normalen Bedingungen die Justiz vor eine Herausforderung stellt, den Ausnahmezustand auszunutzen versucht, gilt als sicher. Bestseller-Autor Roberto Saviano, der seit Jahren zum Thema recherchiert, formulierte es so: „Wenn du Hunger hast und Brot suchst, dann ist es dir egal, aus welchem Ofen es kommt und wer es verteilt. Wenn du eine Medizin brauchst, dann fragst du dich nicht, wer sie verkauft, du willst sie und Schluss. Eine Wahl hat man nur in Zeiten des Friedens und des Wohlstands.“