Anklage eines Missbrauchsopfers
Der Uedemer Heinrich Lamers* wurde in seiner Kindheit mehrere Jahre lang von einem Kaplan sexuell missbraucht. Die Kirche hat das ihm zugefügte Leid als schweres Unrecht anerkannt. Doch die bisher gezahlte Entschädigung ist für Lamers die nächste Demütigu
Das Haus, in dem Heinrich Lamers (64) wohnt, trägt den Namen des Heiligen Josef. Es ist ein modernes Alten- und Pflegeheim im Klever Ortsteil Griethausen. 1335 Einwohner leben in dem abgeschiedenen Dorf. Eine alte Eisenbahnbrücke und der Blick über den Deich auf ein Stück Altrhein sind hier die Attraktionen.
Das Zimmer von Heinrich Lamers liegt im Erdgeschoss der Einrichtung am Ende eines langen Flurs und ist recht groß für Räume in Seniorenheimen. Beim Eintreten riecht es nach Zigarettenqualm. Ein älterer Fernseher steht auf einer Kommode, daneben brummt ein Kühlschrank. Was dem Mann in seinem Leben noch etwas bedeutet, befindet sich im Umkreis von einem Meter. Über dem Fernseher hängt ein Wimpel von Borussia Mönchengladbach an der Wand, zwei Schachteln Burton Zigarillos liegen neben dem Fernseher. Der Rest ist ihm egal geworden.
Lamers ist 64 Jahre, sieht jedoch älter aus. Er hatte einen epileptischen Anfall, der Auslöser für einen Schlaganfall war. Seitdem sitzt er im Rollstuhl und ist linksseitig spastisch gelähmt. Lamers muss täglich 14 Tabletten nehmen. Die meisten sind Antidepressiva. Seinen Körper verwaltet er nur noch. Ärzte und Psychologen bestätigen, dass die Erkrankungen Folgen seiner traumatischen Kindheitserlebnisse sind. In den Jahren zwischen 1965 und 1967 wurde er von dem katholischen Geistlichen Franz G. unzählige Male missbraucht. Wenn er heute über den Täter Franz G. spricht, sagt er immer nur, „das Schwein“. Der habe dafür gesorgt, dass er sein Leben nie gelebt habe.
In dem Zimmer von Lamers liegen mehrere beschriebene Zettel im DIN A4-Format auf einem kleinen Holztisch. Es ist sein Schicksal auf vier Seiten. Sie lesen sich wie eine Anklageschrift. Der 64-Jährige nimmt die Papiere vom Tisch, hält sie hoch, als wolle er damit drohen. „Ich habe das alles ganz genau aufgeschrieben. Den ganzen Dreck“, sagt er und schmeißt die Blätter auf den Tisch. Das Bistum Münster hat die von ihm erhobenen Missbrauchsvorwürfe anerkannt.
In Uedem geboren, wuchs Heinrich Lamers gemeinsam mit drei Brüdern und zwei Schwestern auf. Sein Vater war Schneidermeister, die Mutter arbeitete als Gesellin in dem Betrieb. Als er mit acht Jahren Messdiener in der Pfarrgemeinde St. Laurentius (jetzt St. Franziskus) wurde, freute er sich ebenso wie seine Mutter. „Sie war stolz auf mich und meine Brüder. Wir waren alle Ministranten“, sagt er. Für die Ausbildung zum Messdiener war Kaplan Franz G. zuständig. Früh war Lamers aufgefallen, dass der damals 34 Jahre alte Geistliche stets Jungen allein mit nach Hause nahm. „Als ich zehn Jahre alt war, bot er an, mir kostenlos Klavierunterricht zu geben. Ich freute mich genauso darüber wie meine Eltern“, erzählt er. Es sollte sich als ein grausames Angebot herausstellen.
Das Haus des Klerikers lag abseits der Kirche. Hinter der Haustür zog sich ein langer Flur durch das historische Gebäude mit hohen Räumen. Im hinteren Trakt wohnte die Mutter des Seelsorgers, die auch seine Haushälterin war. Sie müsse von den Vorfällen gewusst haben, so Lamers. Aber sie schwieg. Im ersten Zimmer hinter der Eingangstüre stand das Klavier. Eine Schiebetür trennte den Raum vom angrenzenden Schlafzimmer. Das Bett sah immer benutzt aus, es war nie gemacht. Von der ersten Stunde an verging sich der Gottesmann an ihm. „Wir saßen nebeneinander auf der Klavierbank, dabei griff er mir immer wieder in den Schritt. ‚Das müsse so sein, wenn man Klavier lernen wolle‘, erklärte er mir“, sagt Lamers. Nach einigen Wochen verlangte er mehr. Der Geistliche ging mit ihm ins Schlafzimmer. Dort zog er seine schwarzen Kleider aus und legte sie sorgsam gefaltet über einen Stuhl. Der Zehnjährige musste sich zu ihm ins Bett legen. Die Art des Missbrauchs steigerte sich. „Ich habe mich irgendwann nicht mehr dagegen gewehrt und ließ es über mich ergehen“, sagt Lamers. Die Angst vor dem Hirten gehörte zum Alltag. Neben den seelischen Schmerzen musste er auch körperliche ertragen. Der Peiniger bestellte ihn zwei bis dreimal in der Woche ein. Über Einzelheiten will Lamers nicht sprechen. Im Alter von 14 Jahren ließ der Priester von ihm ab. „Ich war ihm wohl zu alt.“
Als er seiner Mutter von den Vorfällen erzählte, wollte diese davon nichts wissen. Es könne nicht stimmen, der Kaplan sei ein Gottesmann, er solle sich nicht versündigen, waren ihre Worte. Das Vertrauen in den Würdenträger war größer als in den Sohn. Hinzu kam, dass Franz G. völlig anders wirkte: Ein weltoffener Mann wie gemacht für Ausflüge in den Zoo, Sonnenuntergänge am Meer betrachten oder Gitarre spielen bei Lagerfeuerromantik.
Es seien mehrere Kinder von ihm gequält worden, weiß Lamers. Darunter waren auch seine Brüder. Was der Geistliche mit den ihm anvertrauten Kindern machte, hatte System. Erst als sich Messdiener untereinander über die Besuche beim Kaplan unterhielten, wurde der Fall publik und der Priester in die nächste Pfarrei versetzt. Mit reichlich Gottvertrauen, dass sich die Neigung damit erledigt habe. Als Franz G. 1995 emeritiert wurde, hatte er elf Stationen hinter sich, an denen er als Seelsorger wirkte. Auf die Frage, warum nicht mehr Missbrauchsopfer die Öffentlichkeit suchten sagt Lamers: „Ich habe einige angerufen. Sie wollen darüber nicht reden und die Sache auf sich beruhen lassen.“
Der Uedemer fand nach den Misshandlungen nicht mehr zurück ins Leben. Einer Lehre zum Einzelhandelskaufmann folgten vier Jahre bei der Bundeswehr. Dort ließ er sich zum Krankenpfleger ausbilden (1979). „Ich litt auch während der Zeit an massiven Depressionen, bin nachts aufgewacht, weil es schmerzte“, sagt er. Die Qualen waren immer da. Einige Jahre arbeitete er noch als Pfleger. Dann halfen auch die Medikamente nicht mehr. Zwei Ehen scheiterten ebenso wie Therapien und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Kraftlos sitzt er jetzt in seinem Rollstuhl. „Ich kann keine Beziehungen aufbauen. Ich vereinsame hier weiter“, sagt er.
Mit 57 Jahren zog er in ein Seniorenheim. „Ich gehöre hier nicht hin. Mein Kopf ist klar, aber mein Körper hält mich gefangen“, sagt er und steckt sich neben der Haustür einen Zigarillo an. Was soll mir passieren?“Versuche, die Erinnerungen zu verdrängen, scheitern immer wieder. Sie hatten viel Zeit, sich in seiner Seele breit zu machen. Verbittert beginnt er 2016 den Kampf um ein bisschen Gerechtigkeit. Zu dem Zeitpunkt war sein Peiniger acht Jahre tot.
Lamers wendet sich mit einem einen Brief an das Bistum Münster. Dazu legt er die vier Seiten, auf denen er die Taten von Franz G. schildert. Norbert Große Hündfeld war damals der Missbrauchsbeauftragte der Diözese. Der 64-Jährige erinnert sich: „Plötzlich
stand er bei mir im Zimmer. Wir haben uns zwei Stunden über meinen Fall unterhalten.“Wie Lamers erklärt, wusste Große Hündfeld schon damals über Franz G. und seine grausamen Taten Bescheid. „’Er sei bekannt dafür’, sagte er mir.“
Das Gespräch mit Große Hündfeld ließ Lamers hoffen. 5000 Euro überweist das Bistum nach seinem Antrag auf „Leistungen an Opfer sexuellen Missbrauchs“. In dem Antwortschreiben betont der Stellvertretende Generalvikar, Jochen Reidegeld, dass es sich hier um eine „freiwillige Leistung“handelt. „...Die vom Bistum übernommene finanzielle Leistung soll zum Ausdruck bringen, dass wir das Ihnen zugefügte Leid wirklich sehen und anerkennen...“, heißt es.
5000 Euro für ein zerstörtes Leben. Dieser Betrag ist für Lamers die nächste Demütigung. „Für das Geld hätte ich nur ein paar Monate als Krankenpfleger arbeiten müssen. Ich konnte es nicht und werde jetzt damit abgespeist.“Das Sozialamt überweist ihm monatlich 102 Euro Taschengeld. Seinen größten Wunsch kann er sich damit nicht erfüllen. „Ich möchte noch einmal nach Borkum. Allein die Fahrt mit dem Transporter kostet 2500 Euro, mein Rollstuhl muss da rein passen. Wie soll ich das bezahlen?“, fragt er.
Als im vergangenen Jahr über die Höhe von Entschädigungszahlungen für Opfer sexuellen Missbrauchs neu diskutiert wurde, startet der 64-Jährige einen weiteren Versuch. Er möchte, dass die gezahlte Summe neu berechnet wird. Die Reaktion ist der nächste Rückschlag. Tenor des Antwortschreibens ist: Man würde unaufgefordert auf ihn zukommen, falls es neue Richtlinien gebe. Ungedeckte Therapiekosten, die nachweislich mit dem sexuellen Missbrauch zusammenhängen, würde das Bistum bis zu einer Obergrenze von 2000 Euro begleichen. Lamers fühlt sich wie ein Bittsteller. Wie einer, der beweisen muss, dass die Taten ihn zerstörten.
Wie bei allen Missbrauchsopfern geht es auch bei dem Uedemer um die Frage, wie viel Geld ist Leiden wert? Wie kann man die sadistischen Nachmittage im Bett des Kaplans in Geld aufwiegen? Wie vergütet man ein Leben, in dem kein Tag vergeht, ohne an die Vergangenheit zu denken? Lamers macht deutlich, dass es ihm um eine echte, spürbare finanzielle Entschädigung geht, eine Wiedergutmachung. Mitgefühl hat er seitens der Kirche reichlich bekommen. „Ich weiß nicht, wie viel mir vom Leben noch bleibt. Borkum scheint für mich weit weg. Die 5000 Euro sind eine billige Ablasszahlung.“
Der Bischof von Münster, Felix Genn, erklärte: „Wir müssen alles tun, um Menschen, die durch sexuellen Missbrauch verletzt wurden, zu helfen. Entschädigen können wir das aber weder materiell noch ideell. Selbst, wenn ich eine Milliarde hätte, könnte das die Wunden, die den Betroffenen zugefügt wurden, nicht heilen.“Für Lamers sind die Worte des Kirchenfürsten scheinheilig: „Geld wird die Wunden nicht heilen, aber zumindest könnte es die Schmerzen lindern.“
Auf eine aktuelle Anfrage unserer Redaktion zu Franz G., erklärte ein Sprecher der Diözese, dass der Priester aus den Akten zum Thema sexueller Missbrauch bekannt sei. Heinrich Lamers wurde Opfer eines Verbrechens und kämpft seit Jahren um eine angemessene finanzielle Anerkennung. Wie viele Kinder wurden noch von Franz G. missbraucht? Die hilfreiche Akte lag oder liegt offenbar bei der Diözese in einer Ablage. In dem vom Bistum Münster verfassten Totenbrief für Franz G. heißt es:
„Viele von uns haben den Toten gut gekannt. Wir bleiben ihm in Dankbarkeit verbunden.“
* Name auf Wunsch durch die Redaktion geändert.
Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer
Beträge Die katholische Kirche hat im März neue Leitlinien zur Entschädigung von Opfern sexuellen Missbrauchs vorgestellt. Das Schmerzensgeld kann zwischen 5000 und 50.000 Euro liegen.
Leitlinien Ein Gremium setzt, in Anlehnung an das Niveau gerichtlicher Schmerzensgeld-Entscheidungen, die Höhe sogenannter Anerkennungszahlungen fest.
Einstufung Wie schwer ein Fall ist, soll eine unabhängige Kommission aus Juristen, Psychologen und Medizinern entscheiden.