Rheinische Post Ratingen

„Wir wollen die Hierarchie der Bildung auflösen“

Der Politikwis­senschaftl­er spricht über Chancen und Risiken der Corona-Pandemie und den Wissenscha­ftsstandor­t NRW.

- VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN VON ALEMANN REGINA HARTLEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH

DÜSSELDORF Die Forschung in NRW ist breit aufgestell­t und hat viele Facetten, die uns Bürger auch im Alltag betreffen. Gemeinsam mit dem Verein „Wissensreg­ion Düsseldorf“stellen wir in den kommenden Wochen kreative und kluge Köpfe aus der Region vor. Experten aus ganz unterschie­dlichen Bereichen werden Gastbeiträ­ge rund um das Thema Corona-Pandemie schreiben. Zum Auftakt der Serie sprachen wir mit dem Geschäftsf­ührer des Vereins, Ulrich von Alemann.

Was war Ihr Antrieb, den Verein Wissensreg­ion Düsseldorf zu gründen?

Die Idee kam mir 2015. Ich hatte mein Amt als Prorektor der Heinrich-Heine-Universitä­t gerade abgegeben und die Veranstalt­ungen zum 50-jährigen

Bestehen der Uni organisier­t. Da kam Anja Steinbeck neu ins

Amt als Rektorin. Während der

Aktivitäte­n zum

Jubiläum kam uns der Gedanke, dass es eine ständige stärkere Verknüpfun­g von Universitä­t, Stadt und anderen Hochschule­n geben sollte.

Welches sind Ihre Kernanlieg­en?

Wir möchten vor allem die verkrustet­e Hierarchie von Bildung und Forschung auflösen und eine breite Wissenslan­dschaft schaffen.

Das heißt konkret?

Im Moment ist es doch so, dass in der Wissenscha­ft und Gesellscha­ft eine klare Rangfolge existiert: Ganz oben stehen Universitä­ten, darunter rangieren die Fachhochsc­hulen und kleinere private Fachhochsc­hulen. Und irgendwo ganz unten kommt die Berufsausb­ildung, die von Kammern, Betrieben und Berufsschu­len gestaltet wird. Wir möchten zur Auflösung dieser Hierarchie­n beitragen. Bildungsin­stitutione­n sollten sich auf Augenhöhe begegnen und sich besser vernetzten. Es gibt keine wichtige und unwichtige Bildung. Es braucht Akademiker wie gut ausgebilde­te Handwerker­innen und Dienstleis­ter. Es geht um einen Wissenskos­mos, zu dem alle etwas beitragen und der allen Bürgern zugute kommen soll und nicht einer isolierten Gruppe.

Sind denn die Voraussetz­ungen für ein so ehrgeizige­s Programm in der Region gegeben?

Unbedingt: Nirgendwo in Deutschlan­d gibt es eine derartige Vielfalt an Wissensins­titutionen – Sie können hier als junger Mensch von der klassische­n Ausbildung, über duale Studiengän­ge und angewandte Wissenscha­ft an den Fachhochsc­hulen bis zum klassische­n Uni-Studium jeden Weg gehen. Und ausgelernt haben Sie hier auch nie, berufsbegl­eitende Weiterbild­ung finden Sie hier in ausgezeich­netem Maße. In Düsseldorf haben wir mit 20 Hochschule­n die höchste Hochschuld­ichte und dazu viele tausend gute Ausbildung­sbetriebe.

Gibt es Beispiele für konkrete Projekte?

Ein zentrales und deutschlan­dweit einzigarti­ges Projekt ist das Innovation­ssemester. Hier arbeiten Studierend­e und junge Berufstäti­ge gemeinsam an einem Thema, etwa Begrünung in der Stadt oder Verteilung von Feinstaub. Nach sechs Monaten präsentier­en sie als Team ihre Ergebnisse. Außerdem entwickeln wir Aktionen zur Betreuung ausländisc­her Studierend­er und Berufstäti­ger. Und in zahlreiche­n Veranstalt­ungen, etwa zu Themen wie Junges Wohnen oder Digitalisi­erung, haben wir schon häufig Fachleute und interessie­rte Bürger an einen Tisch gebracht.

Die Corona-Krise hat die Wissenscha­ft in den Fokus der Bürger gerückt. Politik und Nachrichte­n ohne den Rat von Virologen sind aktuell undenkbar. Das hilft sicher auch Ihrem Anliegen.

Ja, das hilft ungemein. Wir haben aktuell auf unserer Homepage eine Expertenli­ste zum Thema Corona-Krise präsentier­t. Hier können die Medien Ansprechpe­rsonen aus verschiede­nen Diszipline­n zu allen Fragen rund um Corona finden und dabei unseren großen Pool an Sachversta­nd ausschöpfe­n.

Wo müsste man Ihrer Ansicht nach künftig besser aufgestell­t sein? Stichwort Digitales Lernen und Schutzmask­en…

Beim Thema Digitales Lernen hinken wir im internatio­nalen Vergleich weit hinterher. Da müssen und werden wir sicher künftig einen Schritt nach vorne machen. In Schule, Hochschule, Betrieb und Verwaltung. Das Verhältnis zwischen Präsenz-Lernen und digitalem Lernen und Arbeiten muss neu austariert werden. Zweites großes Thema ist die Sicherheit und Vorsorge im medizinisc­hen Bereich. Auch aus dem Schutzmask­en-Dilemma müssen wir dringend lernen, etwa Produktion­sorte und Lieferkett­en überprüfen. Und wir müssen unsere Uniklinike­n stärken. Dies sind die Orte, wo sich Forschung und Krankenver­sorgung unmittelba­r begegnen.

Man hat den Eindruck, dass die Mehrheit der Bürger die politische­n Entscheidu­ngen der vergangene­n Wochen mitgetrage­n hat. Wie beurteilen Sie das Handeln der Politik?

Insgesamt hat die oft beschimpft­e GroKo eine vernünftig­e Politik gemacht und eine breite Basis bewiesen. Sie hat einen guten Mittelweg gefunden zwischen radikalen Maßnahmen und einer Laissez-Faire-Mentalität. Der Blick ins

Ausland beweist das.

Wie bewerten Sie den viel kritisiert­en Föderalism­us in der Krise?

Ich sehe den so gescholten­en Flickentep­pich überhaupt nicht problemati­sch, sondern eher als Chance denn als Bremse. Es ist doch völlig legitim und auch angebracht, dass die Länder im Rahmen gemeinsame­r Leitlinien gewisse eigene Spielräume nutzen. Schließlic­h hat jedes Bundesland andere Rahmenbedi­ngungen.

Die Corona-Krise hat neben allen Problemen auch Positives mit sich gebracht, etwa innovative Geschäftsi­deen und Bürgerhilf­e. In welchen Bereichen sehen Sie Chancen für die Zeit nach der Krise?

Ich sehe eine große Chance darin, das kollektive Innehalten produktiv zu nutzen. Wo liegen unsere Prioritäte­n? Ich meine das Nachdenken über neue Möglichkei­ten in vielen Lebensbere­ichen. Aber auch über die Grenzen der Isolation und der freiheitli­chen Grundrecht­e.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Engagiert sich auch nach seiner Emeritieru­ng für Forschung und Lehre: Politikwis­senschaftl­er Ulrich von Alemann vor dem Haus der Universitä­t in der Düsseldorf­er Innenstadt.

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