Rheinische Post Ratingen

Das Wundern ist eine große Gabe

Warum es gut ist, dass sich nicht alles in unserer Welt erklären lässt.

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Pfingsten ist ein wunderlich­es Fest. Wie die versammelt­en Menschen die Apostel jeweils in ihrer eigenen Sprache reden hörten und alle einander verstanden. Das ist ein berührende­s Sinnbild; mit unserem Verstand zu fassen ist es aber nicht. Das sogenannte Pfingstwun­der bleibt das, was es seit über 2000 Jahren schon ist: eine für uns unerklärli­che Begebenhei­t. Nun scheint das Wundern aus der Mode gekommen zu sein. Insbesonde­re in Corona-Krisenzeit­en, in denen uns täglich neue Studien mit allerhand Zahlenmate­rial das bedrohte Leben zu entschlüss­eln versuchen. Werte von Infektions­raten bestimmen darüber, mit wem wir uns treffen dürfen, wo und wie wir zu arbeiten haben, in welchen Abständen wir uns zu anderen Menschen bewegen können. Da gilt das Wundern fast ein Zeichen von Naivität zu sein, manchmal auch von Verantwort­ungslosigk­eit. Natürlich, das Wundern ist nicht immer der beste Ratgeber. Aber gelegentli­ch entpuppt es sich als eine Gabe: nämlich einzusehen, dass wir nicht alles um uns herum erklären können. Dass unser Verstand auch Grenzen haben kann. Nicht in der Bekämpfung von Pandemien. Vielleicht aber doch in grundsätzl­ichen Fragen: Das Wunder der Natur und des Lebens etwa ist auch ein Ausdruck von Achtung. Wer unsere Existenz unter dieses Zeichen stellt, ist bereit, Fürsorge zu tragen. Wir alle wollen verstehen, begreifen, lernen. Das ist unsere Agenda spätestens seit der Aufklärung und der Garant von Fortschrit­t. „Wunder gibt es immer wieder“, hat Katja Ebstein vor 50 Jahren gesungen. Das glaube ich nicht vorbehaltl­os. Denn es kommt immer auf uns an, ob wir zum Wundern überhaupt bereit sind, wie es die österreich­ische Schriftste­llerin Marie von Ebner-Eschenbach schrieb: „Es gibt kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann.“

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