Frühwarnsystem in Viersen versagte
Die Erzieherin, die ein dreijähriges Mädchen in einer Kindertagesstätte in Viersen getötet haben soll, galt schon vorher als psychisch labil. Es verdichten sich die Anzeichen, dass ihr Verhalten schon früher hätte auffallen müssen.
VIERSEN Unscheinbar sei sie gewesen, heißt es über Sandra M., der mutmaßlichen Mörderin der dreijährigen Greta. Im Bewerbungsgespräch für die Stelle als Erzieherin der Kita in Viersen, in der sie dem kleinen Mädchen beim Mittagsschlaf tödliche Verletzungen zugefügt haben soll, überzeugte die von Teilnehmern als „angenehm zurückhaltend“beschriebene Frau dennoch. Sechs Bewerber seien damals da gewesen, drei seien genommen worden.
„Frau M. war dabei nach übereinstimmender Ansicht die beste Bewerberin“, erklärt ein Stadt-Sprecher.
Gegen die Kita-Erzieherin wird nun wegen Mordverdachts ermittelt: Greta war im April leblos aus
„Wenn sie eine Mord-Absicht gehabt haben sollte, muss sie sich gut getarnt haben“Klaus Bremen
Deutscher Kita-Verband
einer Kita in Viersen in eine Klinik gebracht worden und dort gestorben. Bei ihren Ermittlungen sind die Behörden auf Auffälligkeiten in Kitas gestoßen, in denen die Frau vorher gearbeitet hatte. Auch in drei anderen Einrichtungen hatte jeweils ein Kind Atemprobleme – zum Teil mehrfach, in einzelnen Fällen bis zum Atemstillstand.
Die 25-Jährige hat ihre Ausbildung zur Erzieherin vom 1. August 2014 bis zum 31. Juli 2018 am RheinMaas Berufskolleg in Kempen absolviert. In der Kita in Viersen hat sie vom 2. Januar bis 22. April 2020 gearbeitet. Dort kündigte sie nach Angaben der Stadt Viersen am 15. April.
Wie konnte es passieren, dass eine Erzieherin trotz schlechter Bewertung während des Anerkennungsjahres in der Ausbildung, trotz der Vorfälle in drei früheren Kindergärten und trotz einer Anzeige in einem weiteren Sachverhalt weiterarbeiten konnte?
Sandra M. fällt in den Jahren mehrfach durch ungewöhnliches Verhalten auf. So werden Ermittlungen wegen Vortäuschens einer Straftat gegen sie vor einem Jahr eingestellt – wegen geringer Schuld. Sie hatte im Mai 2019 behauptet, im Wald bei Geldern von einem Unbekannten mit einem Messer im Gesicht verletzt worden zu sein. Der Rechtsmedizinerin kamen Zweifel. In der Vernehmung bestätigte sich der Verdacht, dass sich Sandra M. die Verletzungen selbst beibrachte. Weil sie psychisch auffällig gewesen sei, habe die Polizei den Opferschutzbeauftragten hinzugezogen, der ihr psychologische Hilfe angeboten habe. Ob die Frau in der Folge die Hilfe angenommen habe, gehe aus den Ermittlungsakten nicht hervor.
Die Staatsanwaltschaft Kleve hatte das Verfahren damals eingestellt. Wäre es zu einem Urteil gekommen, hätte das Ergebnis im erweiterten Führungszeugnis der Erzieherin gestanden. Dieses Zeugnis gibt es genau für solche Fälle, um prüfen zu lassen, wie geeignet Menschen für Berufe wie Erzieher sind. „In das Bundeszentralregister (BZR) werden nur rechtskräftige Entscheidungen eingetragen“, sagt ein Sprecher des zuständigen Bundesamts für Justiz. „Erst, wenn ein Strafverfahren zu einer rechtskräftigen Entscheidung führt, ist dies dem BZR mitzuteilen.“
Im Internet bot Sandra M. Betreuung jeder Art an – als Haushaltshilfe, für Jobs in der Nachbarschaft und sogar als Babysitter. Sie spielte Tennis und gab sich als Tierfreund.
Immer wieder fiel sie mit schlechten Noten auf. Schon im Anerkennungsjahr in einer Krefelder Kita hielt die Leiterin sie nicht für geeignet für den Beruf. Es sei ihr nicht gelungen, eine empathische Beziehung zu den Kindern aufzubauen, hieß es im Bericht der Kita-Leiterin. Trotzdem wurde als Erzieherin zugelassen. Man fragt sich: Wie kann das sein? „Wir nehmen wahr, dass die Fachschulen die Anforderungen unterschiedlich interpretieren“, sagt Klaus Bremen, NRW-Vorsitzender des Deutschen Kita-Verbands. Heißt im Klartext: Auch Erzieher mit schlechten Bewertungen werden zur Prüfung zugelassen.
„Auf den Schulen lastet Druck“, sagt Bremen. Es gebe immer mehr
Kitas, dazu Erziehermangel, man müsse mehr Leute ausbilden. Manche Träger seien zudem in einer schlechten Ausgangsposition. „Nicht jede Kita kann sich erlauben, Menschen mit nicht so guten Noten abzuweisen“, sagt Bremen. Die Verantwortung sieht er bei der Politik. „Man gibt Millionen für die Gebäude aus und schafft Stellen. Aber damit ist es nicht getan.“Er wünscht sich mehr Investitionen für eine bessere Qualität beim Personal. Zeugnisse müssen nach dem Arbeitsrecht wohlwollend ausgestellt werden, sagt Klaus Bremen. Sie seien deswegen nur begrenzt aussagekräftig. „Wenn es um Berufe geht, in denen Menschen für andere Menschen Verantwortung tragen, müsste man das rechtlich anders regeln“, fordert er. Waltraud Weegmann, die Vorsitzende des Kita-Verbands, geht bei diesem Thema einen Schritt weiter. „Letztendlich sind alle Zeugnisse Makulatur“, sagte sie dem WDR.
Arbeitsrechtler Julius Reiter widerspricht. „Man kann schon eine unterdurchschnittliche Bewertung abgeben“, sagt der Anwalt. Wenn ein Arbeitgeber etwa schreibe „Er hat sich stets bemüht, pünktlich zur Arbeit zu kommen“, dann sei sofort klar, was gemeint sei. Ein geschulter Personaler werde sofort hellhörig. „Das Arbeitsrecht bietet in solchen Fällen genug Spielraum“, sagt Reiter.
Die Erzieherin hätte aber an ihrem Arbeitsplatz auffallen müssen, meint Bremen. „Es gibt die Probezeit von sechs Monaten“, sagt er. „Diese sechs Monate werden in Kitas in der Regel eng begleitet.“Man arbeite in dieser Zeit eng mit neuen Erziehern zusammen, insbesondere mit jungen Berufsanfängern. Sie würden zum Beispiel einen „Buddy“an die Seite gestellt bekommen, der die neuen Mitarbeiter fachlich, aber auch menschlich unterstütze. „Wenn sie eine Mord-Absicht gehabt haben sollte, muss sie sich gut getarnt haben.“Durch die Einbindung in ein Team gebe es in den meisten Kitas Mechanismen, die gut geeignet seien, solche Fälle zu verhindern, betont Bremen. „Das ist wirklich ein Einzelfall.“
Aber auch ein Einzelfall kann Schwächen im System offenbaren. „Der Gedanke ,Ich fülle in einen Trichter Geld und unten kommt Qualität raus‘, ist Quatsch“, sagt Bremen. Der Erfolg der Kitas dürfe nicht nur an der Zahl der Plätze gemessen werden, sondern auch an ihrer Qualität und an der Qualität des Personals. Dafür sei eine engere Zusammenarbeit mit den Jugendämtern nötig. „Es braucht in jedem Jugendamt ein paar neue Stellen, da muss es Kümmerer geben“, sagt er. Zudem brauche es Menschen, die die Qualität der Arbeit fördern und kontrollieren.
Viersens Bürgermeisterin Sabine Anemüller (SPD) forderte am Freitag Konsequenzen aus dem Vorfall. In sensiblen Bereichen wie der Kindererziehung müssten Arbeitgeber über psychische Probleme ihrer Mitarbeiter informiert werden, wenn eine Behörde darüber Erkenntnisse hat, sagte sie. Anemüller: „Wir müssen über Fragen des Datenschutzes in sensiblen Bereichen neu nachdenken.“(mit dpa)