Experten warnen vor Lockerungen
Der Ärztepräsident der Region Nordrhein rechnet bis Monatsende mit einer Verdopplung der Zahl von Intensivpatienten. Forscher in Jülich warnen vor einer dritten Infektionswelle.
DÜSSELDORF Kurz vor den Beratungen der Länderchefs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an diesem Montag hat der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, vor Lockerungen gewarnt: „Wir sollten das Erreichte nicht durch Ungeduld zunichtemachen. Jetzt von der Bremse zu gehen, wäre verkehrt. Einige weitere Wochen der Zurückhaltung sind hart, aber verkraftbar.“Henke verwies insbesondere auf die angespannte Situation auf den Intensivstationen. „Noch in diesem Monat dürften sich die Belegungszahlen bundesweit von mehr als 3000 auf über 6000 verdoppeln.“Für NRW rechnet er mit einem Anstieg auf mehr als 1500 Intensivpatienten und warnte, dass nur ein Teil der Kliniken ausreichend Kapazitäten für eine Aufstockung der Intensivkapazitäten tatsächlich freihalte.
Vorzeitige Lockerungen der Corona-Maßnahmen erscheinen jedoch ohnehin vorerst ausgeschlossen. Entscheidungen werden möglicherweise am 23. November fallen. Merkel und die Länderchefs werden die Bevölkerung zunächst eher auf weitere Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie einstimmen – die Kontaktbeschränkungen könnten noch über den November hinaus ausgedehnt werden, um die Zahl der Neuinfektionen wieder auf ein für die Stabilität des Gesundheitssystems erträgliches Maß von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen zu senken. Dies hatte Merkel als Gradmesser für Lockerungen ausgegeben. Derzeit liegt der Wert bei 130. Das Robert-Koch-Institut meldete am Sonntag 16.947 bestätigte Neuinfektionen. Das sind 930 mehr als am vergangenen Sonntag.
Ein kritisches Szenario lässt auch eine Simulationsrechnung des Forschungszentrums Jülich erahnen, die gemeinsam mit dem Frankfurt Institute for Advanced Studies durchgeführt wurde und eine starke dritte Welle prognostiziert. Gelingt es nicht, die Kontaktzahlen im November wirkungsvoll zu reduzieren, drohten täglich 100.000 Neufälle zum Jahreswechsel, heißt es.
In NRW steht Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) auch unter Druck durch den Koalitionspartner. Der FDP-Landesvorsitzende und Vize-Ministerpräsident, Joachim Stamp, forderte im Gespräch mit den „Westfälischen Nachrichten“„eine wirklich dauerhafte Strategie“, etwa mit einem Ampelsystem. So könnte bei einer bestimmten pandemischen Entwicklung die Zahl der Kontakte reduziert werden, während „das Leben überall da weitergehen kann, wo die Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden“.
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher dämpfte Erwartungen an Lockerungen. „Es ist derzeit nicht erkennbar, ob die bisherigen Maßnahmen ausreichen, um die Infektionsdynamik über das bereits erzielte Maß hinaus abzubremsen. Dies wäre erforderlich, um im Hinblick auf die Weihnachtsfeiertage mit weniger Beschränkungen auszukommen“, sagte er.
Die Opposition forderte von der NRW-Regierung schnell Klarheit: „Armin Laschet muss seine Strategie überdenken und rauskommen aus dieser Stop-and-Go-Politik. ,Lockdown, lockern, Lockdown’ kann auf Dauer keine Lösung sein“, sagte SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty. Eine flächendeckende Testinfrastruktur könne helfen, das Virus wieder besser in den Griff zu bekommen. Die Co-Fraktionschefin der Grünen, Josefine Paul, sagte, man bewege sich scheibchenweise „in Richtung eines ungesteuerten Lockdowns“.