An der Schwelle zu Europa
Seit fünf Jahren gilt das Flüchtlingsabkommen. Wie die Menschen an einem Umschlagsplatz für Schleuser die Situation heute erleben.
BADEMLI Auf dem Dorfplatz von Bademli herrscht vorfrühlingshafte Ruhe. Alte Männer sitzen vor dem Teehaus, von der nahen Ägäis weht ein lauer Wind durch Olivenhaine und Zitronenbäume. Das Dorf an der türkischen Westküste gegenüber der griechischen Insel Lesbos wirkt idyllisch. Vor fünf Jahren sah es hier ganz anders aus. „Massenweise kamen sie“, erinnert sich ein Einheimischer. „In Autos, Bussen und Taxis kamen sie, aus Istanbul und aus Izmir kamen sie hierher.“Das ganze Jahr 2015 über bis zum Frühjahr 2016 stiegen zehntausende Flüchtlinge aus Syrien und vielen anderen Ländern in Bademli in Schlauchboote, um die 15 Kilometer nach Lesbos überzusetzen.
Das Dorf war damals ein Umschlagplatz für die Schleuserbanden, die Flüchtlinge nach Europa schafften. Rund 860.000 Flüchtlinge, die aus der Türkei auf griechische Ägäis-Inseln übersetzten, registrierte die Uno im Jahr 2015. Die allermeisten reisten weiter nach Westeuropa, wo ihre Ankunft zum beherrschenden Thema wurde, Regierungen unter Druck setzte und rechtspopulistische Parteien erstarken ließ. Der massenhafte Zuzug endete erst mit dem Flüchtlingsabkommen, das die Türkei und die EU am 18. März 2016 abschlossen.
Der Deal wurde von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert: Das Menschenrecht auf Asyl werde zur Disposition gestellt und quasi ausgelagert. Doch das Abkommen erfüllte den Zweck, den die EU anstrebte: Im Jahr 2016 zählte die Uno noch knapp 175.000 Neuankömmlinge auf den griechischen Ägäis-Inseln, 2020 waren es weniger als 10.000.
Auch die Leute in Bademli haben erlebt, wie schnell und radikal sich die Lage um ihr Dorf veränderte. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Leichen von sechs oder sieben ertrunkenen Kindern aus dem Wasser gezogen wurden“, sagt der Ladenbesitzer Özer. „Das war ganz schlimm damals. Inzwischen kommt aber keiner mehr, jedenfalls sehe ich keine Flüchtlinge mehr. Und ich finde es gut, dass sie nicht mehr kommen. Das ist so schlimm für die Leute, die wollen doch nur ein besseres Leben.“
Täglich fahren die Boote der türkischen Küstenwache zwischen der Türkei und Lesbos ihre Patrouillen, auf dem Land hält die Gendarmerie die Augen auf. Selten treffen die Einsatzkräfte noch auf Flüchtlinge. Zuletzt entdeckten sie Ende Februar ein Boot mit 35 Menschen aus Afghanistan, dem Sudan und Somalia, das Kurs auf Lesbos genommen hatte.
In der Politik funktioniert der Vertrag nicht ganz so geräuschlos. Der türkische Präsident Erdogan beschwert sich oft und gerne darüber, dass die Europäer ihren Teil der Abmachung angeblich nicht einhalten und sein Land mit 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen und vielen weiteren aus Afghanistan und anderen Ländern im Stich lassen. Vor einem Jahr öffnete Erdogan vorübergehend die Landgrenze zu Griechenland für die Flüchtlinge, um die EU dazu zu zwingen, seine Syrien-Politik zu unterstützten. Der Versuch scheiterte, die Flüchtlinge wurden von griechischen Grenztruppen abgefangen und in die Türkei zurückgeschickt.
Die EU hat die 2016 zugesagten sechs Milliarden Euro an die Türkei inzwischen komplett auf den Weg gebracht. Europa finanziert Schulen, medizinische Einrichtungen und Berufsbildungsprogramme für Syrer in der Türkei, vergibt Kleinkredite an türkische Bauern, die Syrer als Erntehelfer einstellen. Jetzt geht es hinter den Kulissen darum, eine Anschlussregelung für den ungeliebten Vertrag auszuhandeln.
Türkische Politiker ignorieren in ihren Reden gerne, was die EU leistet – umgekehrt kommen in der EU neue türkische Geldforderungen nicht gut an. Dabei ist vielen Europäern nicht klar, was die Türkei für Europa tut: Das Land, dessen Pro-Kopf-Einkommen bei weniger als einem Drittel des EU-Durchschnitts liegt, lebt seit Jahren mit 3,6 Millionen registrierten Syrern und ein bis zwei Millionen nicht registrierten Flüchtlingen. In der EU wurde schon wegen einer Million
Neuzugänge der politische Ausnahmezustand ausgerufen. Ein neuer Flüchtlingsdeal müsste anders aussehen als der erste. Je mehr Zeit ins Land geht, desto klarer wird, dass die Türkei dauerhaft zur Heimat für Millionen Syrer wird. Mindestens
die Hälfte davon will nicht mehr zurück, schätzt ein hochrangiger europäischer Diplomat. Viele leben seit zehn Jahren in der Türkei, 650.000 syrische Kinder wurden bereits in der Türkei geboren.
Dennoch bremst die türkische Regierung bei Integrationsmaßnahmen. Viele Türken wollen die Syrer, die zu Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt geworden sind, baldmöglichst nach Hause schicken. In Wahlkämpfen versichert Erdogan seinen Anhängern immer wieder, die „Gäste“würden nicht bleiben. Bisher hat Ankara deshalb nur 70.000 Arbeitsgenehmigungen an Syrer vergeben, das sind nur drei Prozent der arbeitsfähigen Flüchtlinge. Dabei wisse auch die türkische Regierung, dass die Minderheit integriert werden müsse, sagt der europäische Diplomat. „Die EU kann nicht auf ewig Sozialprogramme finanzieren.“Immerhin setzten die Europäer durch, dass 3000 syrische Ärzte und Krankenpfleger zur Arbeit in EU-finanzierten
Gesundheitsstationen für Syrer eingestellt werden konnten.
Auch die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland erschweren die Gespräche über einen neuen Flüchtlingsdeal. Die türkische Regierung, Medien und Flüchtlinge werfen den Griechen vor, Bootsflüchtlinge widerrechtlich in türkische Gewässer zurückzustoßen und sie dort ihrem Schicksal zu überlassen.
Ein Flüchtling, der seinen Namen nicht genannt wissen will, berichtet, wie er nach einem Fluchtversuch auf die griechische Insel Kos gegen seinen Willen in die Türkei gebracht wurde. Nachdem er zusammen mit anderen von den griechischen Sicherheitskräften auf Kos gefasst worden sei, hätten die Griechen kurzen Prozess gemacht: „Sie steckten uns in ein kleines Boot und schickten uns zurück in die Türkei“, sagt der Mann. „Wenn uns die türkische Küstenwache nicht gefunden hätte, wären wir jetzt tot.“Griechenland weist die Vorwürfe zurück, doch die Glaubwürdigkeit der europäischen Flüchtlingspolitik hat wegen der vielen Berichte über die illegalen „Push-backs“stark gelitten.
Unklar ist noch, was mit neuen EU-Geldern aus einer Anschlussvereinbarung für den Flüchtlingsdeal bezahlt werden soll. Die türkische Regierung dringt auf den Bau von Containersiedlungen in den Regionen von Nord-Syrien, die von der türkischen Armee besetzt sind. Damit soll die Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien erleichtert und die Türkei entlastet werden. Allerdings sind Europa und USA gegen den Plan – von der syrischen Regierung, auf deren Gebiet die neuen Siedlungen entstehen sollen, ganz zu schweigen.
Am wahrscheinlichsten ist deshalb, dass die bisherigen Vereinbarungen fortgeschrieben werden, bis sich beide Seiten auf neue Inhalte einigen können. Die Leute in Bademli sind jedenfalls dafür, die Flüchtlingsvereinbarung in Kraft zu lassen, auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst würden, wie Teehausbesitzer Mutlu sagt: „Das Abkommen ist gut, aber wenn Sie mich fragen: Wer gehen will, der geht auch. Wenn ich jetzt nach Deutschland will, dann können Sie mich auch nicht mit so einem Abkommen aufhalten.“