Rheinische Post Ratingen

Die Digitalisi­erung bietet immer neue Chancen. Damit ihre Macht aber zum Wohle der Menschen wirkt, muss man ethischen Leitplanke­n anbringen.

- VON ANTJE HÖNING

Als vor 25 Jahren das Internet auf die Welt kam, haben wir uns alle keine Vorstellun­g davon machen können, wie allmächtig und allgegenwä­rtig es einmal werden würde. Auch Tech-Profis schätzten die Entwicklun­g damals überrasche­nd falsch ein. „Das Internet ist eine Spielerei für Computerfr­eaks, wir sehen darin keine Zukunft“, sagte etwa 1990 der damalige Telekom-Chef Ron Sommer. Auch Microsoft-Gründer Bill Gates hielt das Internet für einen vorübergeh­enden Hype. Prognosen sind eben immer schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen, heißt eine alte Ökonomen-Weisheit. Heute beherrsche­n Digitalisi­erung und speziell das Internet Alltag, Kommunikat­ion, Konsum, Produktion. Umso dringender stellt sich die Frage, welche Leitplanke­n man dieser Macht mitgeben muss, damit sie zum Wohle der Menschen wirkt.

„Digitale Technik soll Unterdrück­ung überwinden und Armut lindern, Debatten ermögliche­n und nicht vergiften, Bildung und Aufklärung verbreiten. Sie soll dem Menschen dienen – und nicht umgekehrt“, sagte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in einer Grundsatz-Rede. Entspreche­nd muss eine neue Ethik formuliert werden, die die Chancen der Digitalisi­erung nicht behindert und ihre Kraft zugleich in die richtige Richtung lenkt.

Unter Steinmeier­s Schirmherr­schaft soll nun ein internatio­nales Forscherte­am konkrete Handlungse­mpfehlunge­n für die Digitalpol­itik erarbeiten. Das im August 2020 angestoßen­e Projekt läuft über zwei Jahre und soll Fragen klären wie: Wie lassen sich automatisi­erte Entscheidu­ngen fair und transparen­t gestalten? Wie lässt sich verhindern, dass durch Programmco­des bewusste oder unbewusste Vorurteile verbreitet werden? Wie kann eine internatio­nale Verständig­ung über ethische Standards gelingen? Dass das Ganze auch Weltpoliti­k berührt, wurde in der jüngsten Vergangenh­eit deutlich: Staaten wie China nutzen die Macht ihrer Tech-Konzerne schon heute, um ihre Bürger auszuspion­ieren. Der Streit um die Netzwerkau­srüstung in Deutschlan­d zeigt, wie schwer sich demokratis­che Länder

mit chinesisch­en Anbietern wie Huawei tun. Aber auch in demokratis­chen Ländern ist die Freiheit des Netzes ein Problem: Donald Trump hätte ohne Twitter kaum zum Sturm auf das Capitol aufrufen können. Dass Twitter schließlic­h seinen Account sperrte, kam einerseits zu spät und warf anderersei­ts die Frage auf, ob Tech-Konzerne das dürfen. Heute sperren sie einen gefährlich­en Trump aus, aber morgen vielleicht einen Joe Biden, dessen Meinung ihnen nicht passt. Und können sich Demokratie­n überhaupt auf die Selbstregu­lierung der Unternehme­n verlassen? Meistens haben Staaten mit solchen Selbstverp­flichtunge­n schlechte Erfahrunge­n gemacht.

Eine große Rolle bei der Ethik der Digitalisi­erung spielt die inhärente Macht von Internetko­nzernen und die Frage, wie man sie begrenzen kann. Das Problem sind dabei die Netzwerkef­fekte, die Plattforme­n automatisc­h haben. Wo viele Nutzer sind, wollen noch mehr Nutzer hin. The winner takes it all: Große Firmen werden immer größer – und zwar nicht durch böse Machenscha­ften, sondern durch die souveränen Entscheidu­ngen der Konsumente­n. Eine echte Herausford­erung für die Marktwirts­chaft.

Der Düsseldorf­er Wettbewerb­sökonom Justus Haucap bringt die Ambivalenz auf den Punkt: „Während digitale Plattforme­n den Wettbewerb auf vielen Märkten intensivie­rt haben, besteht aufgrund des kippligen winner-takes-all-Charakters dieser Märkte auch ein erhöhtes Risiko einer Marktabsch­ottung durch große Plattforme­n.“

Seit Ludwig Erhard ist das Kartellrec­ht das schärfste Schwert, um Wettbewerb und Marktwirts­chaft zu sichern. Doch mit klassische­r Fusionskon­trolle ist es bei Digitalfir­men nicht getan. Das hat etwas mit den Schwellenw­erten zu tun. Lange konnten viele Digital-Fusionen nicht kartellrec­htlich geprüft werden, da die Umsätze der Firmen so klein waren, dass sie unter den „Aufgreifsc­hwellen“lagen, an denen sich die Kartellbeh­örden orientiere­n, wie Haucap erläutert. „Bei stark wachsenden Plattforme­n mit unentgeltl­ichen Leistungen auf einer Marktseite kann dies jedoch dazu führen, dass wirtschaft­lich sehr bedeutsame Fusionen kartellrec­htlich ungeprüft bleiben. Um dies zu beheben, wurde 2017 in Deutschlan­d und Österreich eine neue transaktio­nswertbasi­erte

Aufgreifsc­hwelle in die Fusionskon­trolle eingeführt.“

Mit einer Reform des Gesetzes gegen Wettbewerb­sbeschränk­ungen ist der Staat weiter gegangen. Nun erlaubt er den Kartellbeh­örden auch, mit Blick auf künftige Monopolgef­ahren einzugreif­en. „Wir werden künftig bestimmte Verhaltens­weisen der Big-Tech-Unternehme­n schon früher untersagen können, also quasi bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, freute sich Kartellamt­s-Chef Andreas Mundt. „Wir werden die Möglichkei­t bekommen, vorbeugend einzuschre­iten. Das kann ganz entscheide­nd dazu beitragen, die Marktmacht der großen Plattforme­n einzubrems­en.“

Doch die Arbeit ist noch lange nicht zu Ende. Die Digitalisi­erung schreitet voran. Das Ganze geschieht zu unserem Vorteil, ist aber eben auch verbunden mit neuen Gefahren: Wer sagt dem Auto beim autonomen Fahren, wie es in Konfliktsi­tuationen reagieren soll – auf den Vordermann auffahren oder auf den Bürgerstei­g, wo Passanten in Gefahr geraten? Aber auch bei Datenschut­zdebatten: Was passiert mit den Massen an Daten, die beim autonomen Fahren entstehen? Wie kann man Daten von Kranken für die medizinisc­he Forschung nutzen, ohne ihre Privatsphä­re zu verletzen?

Das Anbringen der ethischen Leitplanke­n wird national und internatio­nal eine Daueraufga­be bleiben. Der Bundespräs­ident mahnt: „Die internatio­nale Verständig­ung über ethische Standards zur Digitalisi­erung wird immer wichtiger, wenn wir auch in Zukunft ein durchgängi­ges, offenes, freies und kreatives Internet wollen.“Nur so bedeutet Digitalisi­erung mehr Wohlstand und nicht neue Gefahr.

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Ludwig Erhard, Vater der Sozialen Marktwirts­chaft.

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