„Demokratie muss jeden Tag erkämpft werden“
Sie sind Vertreter des ganzen Volkes. Daran hat sich für die Abgeordneten des Bundestages seit
1949 nichts geändert. An vielem anderen schon. Wie sieht der Alltag der Abgeordneten heute aus?
Wolfgang Schäuble ist der dienstälteste Parlamentarier. Seit 49 Jahren schicken ihn die Menschen im Wahlkreis Offenburg in den Bundestag. Als er 1972 erstmals in Bonn eintraf, hatte sich das Grundgerüst der internen Abläufe gerade verfestigt. Bis dahin war nach jeder Wahl damit jongliert worden, wann die Ausschüsse tagen, wie die Sitzungswochen liegen, ob auch am Samstag debattiert wird. Seit den frühen 70ern hat sich – von Sondersitzungen zu herausragenden Ereignissen oder dramatischen Entwicklungen mit dringendem Entscheidungsbedarf abgesehen – nicht viel verändert. Nach diesem Grundmuster reisen die meisten Abgeordneten im Verlaufe des Montags an und treffen sich am Abend in ihrer jeweiligen Landesgruppe, um dort zu beraten, wie sie die Interessen ihrer jeweiligen Region am besten einbringen können.
Der 29-jährige Schäuble hatte in seinem Wahlkreis mit damals rund hundert Dörfern auch schon mal am Montagabend wichtige Termine.
Dann nahm er den Nachtzug nach Bonn. Weil der aber weniger als fünf Stunden brauchte, fuhr Schäuble zunächst an Bonn vorbei bis Essen. „Und auf dem Rückweg nach Bonn habe ich dann im Speisewagen gefrühstückt“, erinnert sich der CDU-Politiker. Eine eigene Wohnung in der kleinen Universitätsstadt am Rhein – für die erste Abgeordneten-Generation war das ein kleines Wunder. Günter Goetzendorff, Abgeordneter der Splitterpartei Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV), kam zur Untermiete bei einem Studienrat unter und teilte sich die Wohnung überdies mit dem SPD-Politiker Adolf Arndt. „Wenn seine Frau zu Besuch kam, konnte ich frühmorgens das Badezimmer nicht benutzen, weil sie darin schlief“, erinnerte sich Goetzendorff. Zwölf Abgeordnete teilten sich zwei Büroräume, hatten zusammen eine Schreibmaschine, und wenn sie etwas schreiben lassen wollten, kamen „Damen vom Schreibdienst“, allerdings manchmal erst nach zwei, drei Tagen.
Auch in den 1970er-Jahren habe es in den meisten Büros und Wohnungen noch keine Fernseher gegeben. „Wir haben in der Parlamentarischen Gesellschaft zusammen ferngesehen“, berichtet Schäuble. Vor allem die großen Fußballspiele verfolgten die Parlamentarier dort.
Die oft gefühlte „gute alte Zeit“– war sie so viel besser als heute? Konnte man dort als Abgeordneter noch vernünftig mit den Menschen kommunizieren und lief nicht Gefahr, wie heute, von Shitstorms, Hass und Morddrohungen verfolgt zu werden? „Der Satz ,Früher war alles besser’ ist immer falsch“, lautet eine zentrale Erkenntnis von Schäuble. „Wir steckten in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, hatten die scharfe Ost-West-Konfrontation“, erinnert Schäuble. Der Kalte Krieg hätte jederzeit heiß werden können. Das Klima sei von Spionage geprägt gewesen – da war es nicht weit bis zu Verratskampagnen.
Zu den Beispielen gehört für ihn der Wahlkampf gegen „Brandt alias Frahm“, als der Geburtsname den späteren Bundeskanzler verunglimpfen sollte. „Wir sollten das nicht verharmlosen“, lautet Schäubles Zusammenfassung. Und: „Wir können nicht sagen, dass da kein Hass dabei gewesen sei.“Es habe zwar keine Sozialen Netzwerke gegeben, aber Beschimpfungen und Störungen von Veranstaltungen. „Und wir hatten die terroristische Bedrohung durch Baader-Meinhof – das war auch alles nicht so fröhlich“, meint Schäuble.
Nach dem Viel-Parteien-Parlament ab 1949 sorgte die Fünf-Prozent-Hürde über Jahrzehnte für eine Konzentration auf CDU, CSU, SPD und FDP. Das änderte sich 1983 durch den Einzug der Grünen. Und noch einmal 1990 mit der Wiedervereinigung und dem Einzug der PDS. Deren bekanntester Politiker Gregor Gysi erinnert sich: „Die Situation war für die Abgeordneten aus dem Osten sehr fremd.“Die Mehrheit habe sie im Plenum und draußen abgelehnt. Eine kleine Gruppe sei sachlich mit ihnen im Haus und außerhalb umgegangen. Schließlich habe es diejenigen gegeben, „die uns im Plenum angifteten und draußen so taten, als ob sie es nicht so gemeint hätten – die konnte ich am wenigsten leiden“, erklärt Gysi.
Es habe lange gedauert, bis eine immer sachlichere Atmosphäre entstanden sei. Und eine weitere atmosphärische Veränderung im Bundestag habe es 2017 mit dem Einzug der AfD gegeben. Sogar zwischen Union und Linken beginne man nun, sich besser zu verstehen: „Dort wird auch langsam begriffen: die Gefahr kommt von rechts“, hält Gysi fest. Er startete seinerzeit noch in Bonn. Dorthin seien die Probleme der Welt nicht wirklich durchgedrungen.
Die veränderte Kommunikation macht Schäuble Sorgen. Die Grundaufgabe der Abgeordneten sei zwar gleich geblieben: die Prinzipien der freiheitlichen Demokratie – Respekt vor der Würde jedes Menschen, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit – stabil zu halten. Aber wie gelingt das unter den Bedingungen der totalen Veränderung? Parlamentarische Demokratie brauche aber eine gemeinsame Öffentlichkeit. Nun machten alle westlichen Demokratien Akzeptanzkrisen durch, und mit den in der Pandemie effizienter erscheinenden Diktaturen verschärfe sich die Frage, ob sich das westliche Modell behaupten oder Populisten und Extremisten die Oberhand gewännen. Schäuble: „Die Demokratie muss jeden Tag erkämpft werden, und das wird immer schwieriger.“
„Der Satz: ,Früher war alles besser’, ist immer falsch“Wolfgang Schäuble Bundestagspräsident