Die Jugend wird älter
Wie ticken junge Menschen? Dieser Frage gehen Wissenschaftler seit 70 Jahren nach. Während Ältere derzeit immer länger jung sein wollen, sympathisieren Jüngere mit alten Rollenvorstellungen.
Monatelang von den Freunden getrennt, kaum jemanden in den Arm nehmen, mit niemandem feiern – was macht das mit jungen Leuten? Wie werden sie ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen nach der Pandemie sehen? Ähnliche Fragen stellten sich vor sieben Jahrzehnten, als die erste Shell-Jugendstudie entstand. Zusammengenommen, sind die inzwischen 18 Untersuchungen über die jeweilige Jugend ein faszinierender Blick auf die Entwicklung der Gesellschaft. Und ihrer jeweiligen Zukunft.
Im Jahr 16 der Kanzlerschaft von Angela Merkel scheint es Lichtjahre zurück zu liegen, dass Frauen ohne Einverständnis ihres Mannes in Deutschland nicht berufstätig sein durften. Dabei wurde dieser heute kaum vorstellbare Zustand erst 13 Jahre nach Kriegsende beendet. Sogar bis 1977 legte das Gesetz fest, dass eine Frau streng genommen einen Beruf nur dann ausüben dürfe, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“sei. Das ist der Rahmen für die Perspektiven und Vorstellungen, die die Zwölf- bis 25-Jährigen in regelmäßigen repräsentativen Befragungen den Infratest- (heute: Kantar-) Demoskopen seit den frühen 1950er Jahren enthüllten.
Am Anfang stand die Neugierde. Wie denkt, wie fühlt eine Jugend, die im Nationalsozialismus erzogen, von Diktatur und Krieg geprägt ist? Die erste Antwort: Sie lässt sich erobern. Und zwar nur zu gerne vom „American way of Life“. Es war nicht allein die Musik, die sich in jungen Ohren deutlich besser anhörte als die ersten deutschen Schlager. Es waren der Petticoat und die Jeans, die besser zu einem passten, es waren Cola und Wrigley’s Kaugummis, die besser schmeckten, und es waren Boogie und Rock’n’Roll, die auf der Tanzfläche besser das Lebensgefühl von Neuanfang und Neuaufbruch widerspieglten.
Wenn die jungen Leute in den 1950er Jahren träumten, dann von den Bildern, die sie im Kino im amerikanischen Filmen sahen. Die ersten Umfragen arbeiteten heraus, dass sie selbst aber weniger James Dean oder Elvis Presley nacheiferten, sondern nach einer vernünftigen Ausbildung einen ordentlichen Beruf wollten, nach der Eheschließung eigene Kinder, ein Auto und Urlaub in Italien. Begleitet war das ein Jahrzehnt nach Kriegsende von großem politischen Desinteresse. Einer von zwei Jungs und zwei von drei Mädchen hatten mit Politik nichts am Hut.
Das änderte sich in den 1960ern, als die Abgrenzung von der Elterngeneration das Leben der Jugend zunehmend prägte. Der Wandel war radikal und seit der Zulassung der Antibabypille Anfang der 1960er
Jahre begleitet von einer sexuellen Revolution. Normen, Werte und Lebensweisen erfand die Jugend neu. Nein zum BH, Nein zum Vietnam-Krieg, Nein zur Autorität – ob Protest oder Provokation, das Private wurde zum Politischen. Die Studentenbewegung riss viele mit sich. Aber nach den Erkenntnissen der Forscher blieben die Aktiven eine Minderheit, eine Avantgarde, die aber vor allem in den Städten das
Verständnis von dem, was im Zusammenleben von Männern und Frauen normal sein soll, schnell veränderte. Die Utopien entstanden in den 60ern, die Umsetzungsversuche begleiteten die 70er. „Mit Anarchie und LSD bekämpfen wir die BRD“, hieß eine der Parolen. Doch insgesamt hatte die Jugend im Verlauf dieser Jahre ihren Frieden mit dem Wirtschafts- und dem Gesellschaftssystem gemacht. Sie wollte weder das eine noch das andere abschaffen, aber sie wollte mehr: Mehr Umweltschutz, mehr Mitsprache, mehr Arbeitsplätze. Es ist kein Zufall, dass am Ende des Jahrzehntes die Grünen entstanden, die Friedens- und Antiatomkraftbewegung vor allem von jungen Leuten Schwung bekam.
In den 1980ern standen die Lebensgenießer in den Diskotheken gegen die Weltverbesserer bei den Straßenblockaden. Die Meinungsforscher legten ihre Untersuchungen verwundert auf den Tisch und meinten: „Diese Jugend ist sehr verschieden.“Sie entdeckten sowohl Anzeichen für „no future“wie für Party ohne Ende. Am Ende stand die erste, noch kleine Loveparade in Berlin, die das folgende Jahrzehnt prägen und Ausdruck einer großen Feierlaune werden sollte. 1999 tanzten anderthalb Millionen junge Leute auf den Straßen von Berlin. Den Hintergrund hatten die Jugendstudien im Vergleich geliefert: Anfang der 80er meinten vier von zehn Jugendlichen, sie seien grundsätzlich optimistisch. Nach der Wiedervereinigung sagten das sieben von zehn.
Parallel veränderten die Erwachsenen ihre Haltung gegenüber der
Jugend. Sie wollten nicht länger allein bestimmen, wann ihre Kinder was zu tun hätten. Es entwickelte sich allmählich ein Jugend-Trend, bei dem auch die Älteren länger wie die Jungen sein wollten. Standen frühere Zeiten im Zeichen des Konfliktes zwischen den Generationen, gab es nun zunehmend Konsens. Um die Jahrtausendwende sagten die meisten junge Leute auf die Frage, wie sie irgendwann mal ihre eigenen Kinder erziehen wollten: So wie wir erzogen wurden.
Und heute? Die letzte Jugendstudie von 2019 deutete verblüffende Einstellungsverschiebungen an. Obwohl die jungen Frauen so gut ausgebildet sind wie keine Generation vor ihnen, sympathisieren sie wieder stärker mit alten Rollenvorstellungen. Konfrontiert mit dem
Gedanken, mit 30 in einer Partnerschaft ein Kind zu haben, wollen junge Frauen sich mehr um die Familie kümmern und ihren Partner zum Verdiener machen, sogar noch mehr, als es die jungen Männer wollen. Freilich scheint das auch mit der Erlebniswelt zu tun zu haben: Im Osten klappte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stets besser als im Westen, und das färbt auf die eigene Zukunftsprojektion von jungen Frauen auch eine Generation nach der Wende noch ab.
„Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“– dieser Spruch der 1960er bis 1980er Jugend hat lange ausgedient. Doch wer warnte die Gesellschaft vor einer Pandemie? Die nächste Jugendstudie dürfte so spannend werden wie die erste.