Das Schützenwesen ist ein Phänomen. Es hat auch in modernen Zeiten nichts von seiner Attraktivität verloren. Weil es Bindungen schafft, nach denen sich viele heute sehnen.
Seherlebnis, das alljährlich rund 150.000 Zuschauer anlockt. So spiegelt das Neusser Regiment soziologisch die bunte Vielfalt der Stadtgesellschaft.
Wo bleibt da die Integration? Die Uniform hebt wie die Badehose am Strand alle Unterschiede auf. In Uniform ist der Generaldirektor nicht von seinem Chauffeur zu unterscheiden. Die Schützen sind eine Wir-Gesellschaft, und auf der Festwiese herrscht das Schützen-Du. In dieser offenen Gemeinschaft haben es Neu-Neusser leicht, sich einen Freundeskreis in der neuen Heimat zu erobern. Voraussetzung: Der Neue ist bereit, sich auf das große Spiel der Männer einzulassen.
Das Spiel der Männer? Diese Formulierung gibt das Thema vor. Welche Rolle bleibt da für die Frauen? Die ziehen zwar in den Musikgruppen mit, aber die Teilnahme in Schützenuniform an den Umzügen ist ihnen verwehrt. Dennoch ist das Schützenfest ebenso weiblich wie männlich – abgesehen von den Umzügen. Ein Ball im Zelt ohne Frauen? Freudlos. Ein Zugleben ohne Zugdamen? Undenkbar.
Dass die Frauen-Diskussion nur lau geführt wird, mag einen Neusser Grund haben. Alljährlich sind sechs Wochen vor dem eigentlich Fest die „Bürger und Bürgerssöhne“aufgerufen – seit wenigen Jahren auch die Ratsfrauen aus dem Hauptausschuss –, darüber zu befinden, ob es denn Sinn macht, erneut ein großes Schützenfest zu feiern. In Vorzeiten ging es darum, ob die Bürgerschaft aufgefordert werden sollte, die Stadt zu verteidigen. Darum geht es im Prinzip auch noch heute: Die Stadt vor negativen Einflüssen zu beschützen.
So begründet zur Bürgerversammlung stets ein Komiteemitglied den Verteidigungsfall. Meist geht es darum, ein Zeichen der Lebensfreude gegen die Sorgen des Alltags zu setzen, oder darum, einen wirtschaftlichen Impuls durch ein großzügiges Fest für Handel und Wandel in der Stadt zu inszenieren. Wenn dann hunderte Männer „Zog! Zog!“skandieren, dann bildet sich aus der Bürgerschaft eine marschierende, Uniform tragende Truppe. Die Schützen. Aber auch alle anderen Bürger beschützen die Stadt. Frauen übernehmen viel Organisation in Zügen und Familien und feiern mit ihnen auf der Wiese, im Zelt und in den Sälen.
Im Coronajahr 2020 fiel auch die Bürgerversammlung dem Lockdown zum Opfer. Aber selbst ohne Abstimmung war allen Beteiligten klar: Wer als Schütze beschützen will, der darf nicht fünf Tage lang mit rund 1,5 Millionen Gästen ausgelassen feiern. Wer als Schütze beschützt, der pflegt dennoch – und wenn es sein muss auf Abstand – Gemeinschaft. Diese Nähe ist in Pandemiezeiten die Antwort auf geschlossene Gaststätten und Geschäfte, auf ausgefallene Feste. Ein Fest mit emotionaler Nähe, das alle mit allen Sinnen wahrnehmen. Gemeinsam allein. So wächst Heimat. Wenn es das Neusser Schützenfest nicht schon gäbe, es müsste erfunden werden.