Hotspot Hüttenheim
In dem Duisburger Stadtteil stieg die Inzidenz am vergangenen Freitag auf 490. Um ihn herum lag der Wert deutlich darunter. Doch woher die hohen Corona-Zahlen kommen, ist bisher ein Rätsel. Eine Spurensuche.
DUISBURG Naile Erol stützt sich auf ihrem Rollator ab und atmet tief durch. „Endlich mal schönes Wetter“, seufzt die 65-Jährige. Sie ist froh, draußen zu sein, und sei es nur für einen kleinen Spaziergang. Sie hat sich mit einer Freundin in einer Grünanlage in Hüttenheim verabredet, einem kleinen Stadtteil im Duisburger Süden mit einer sehr hohen Sieben-Tage-Inzidenz; am vergangenen Freitag hat der Wert bei 490 gelegen. „Meine Tochter kommt mich deswegen schon nicht mehr besuchen. Es ist zu gefährlich. Darum freue ich mich umso mehr, meine Freundin zu treffen“, sagt sie.
Erstmals hat die Stadt Duisburg am vergangenen Freitag die Sieben-Tage-Inzidenz für die einzelnen Stadtteile veröffentlicht; davor waren lediglich die Zahlen für die Bezirke herausgegeben worden. Nur Alt-Hamborn hat mit 512 einen höheren Wert gehabt als Hüttenheim; insgesamt hat die Inzidenz an dem Tag in Duisburg bei 212 gelegen. Der hohe Wert in Hamborn, das im Norden der Stadt liegt, hat die meisten nicht weiter überrascht – dort gibt es Einkaufsstraßen, das Leben findet buchstäblich auf der Straße statt. In Hüttenheim ist das anders. Dort gibt es eigentlich kaum etwas: keine Einkaufsstraße, keine Cafés, keine Drogerien. Die wenigen Büdchen und Trinkhallen im Viertel sind zu. „Nicht einmal einen Arzt haben wir hier“, sagt eine Anwohnerin. Einen Discounter gibt es immerhin, wenn auch an einer Stadtteilgrenze. Besonders an dem hohen Wert in Hüttenheim ist auch, dass die Nachbarstadtteile allesamt deutlich niedrigere Inzidenzen haben: Huckingen (94,8), Ungelsheim (102,1), Wanheim-Angerhausen (231,3).
In einem Hinterhof eines Mehrfamilienhauses mit auffallend vielen Satellitenschüsseln sitzen vier ältere Männer auf Stühlen, die sie sich aus ihren Wohnungen mit nach draußen gebracht haben. Sie tragen Mundschutz und halten Abstand zueinander. „Wir fragen uns auch, warum hier bei uns in Hüttenheim der Wert so hoch ist“, sagt einer der vier türkischstämmigen Männer. Zwei von ihnen haben bei Mannesmann gearbeitet, die anderen beiden bei Thyssen. Schon seit Jahren sind sie in Rente. „Sie sehen ja selbst, dass hier kaum jemand auf der Straße ist“, sagt einer der Männer. „Aber das heißt nicht, dass die Menschen hier mit mehreren zusammen in der Wohnung sind. Das ist nicht so. Also wo soll man sich hier anstecken?“, fragt er. Tatsächlich trifft man auf den Straßen nur vereinzelt Menschen. Und die meisten tragen Maske. Auch auf dem Spielplatz in Hüttenheim ist nicht mehr oder weniger los als auf den Spielplätzen in Düsseldorf, Köln oder Moers.
Hüttenheim verfügt über eine der bedeutendsten und am besten erhaltenen Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet; entstanden ist das Viertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um Wohnraum für die Beschäftigten des angrenzenden Stahlwerks zu schaffen. Das Viertel ist bis heute eine reine Wohngegend geblieben. 3500 Menschen leben dort – ähnlich viele wie vor 100 Jahren.
Hüttenheim ist multikulturell. Seit 2007 gibt es keine christliche Kirche mehr, dafür aber eine Moschee, auf deren Parkplatz die Stadt Duisburg gerade erst ein Testzentrum aufgebaut hat. Samstags ist dort Markt.
Auch bei der Stadt Duisburg kann niemand mit Gewissheit sagen, wieso der Inzidenzwert in Hüttenheim so hoch war. Für Hüttenheim habe jedenfalls kein besonderes Ereignis vorgelegen, mit dem man die Inzidenz von 490 erklären könnte, so ein Sprecher der Stadt. Bei den Sieben-Tage-Inzidenzwerten für die Stadtteile handele es sich um stark schwankende Momentaufnahmen, für die ein diffuses Infektionsgeschehen
und überwiegend Ausbrüche im privaten Bereich die Ursachen seien. Bei der Bewertung der Zahlen sei auch immer die Relation zu den Einwohnerzahlen zu sehen. „Je weniger Einwohner ein Stadtteil hat, desto unbeständiger die Sieben-Tage-Inzidenz“, sagt der Sprecher. Bei der Interpretation der Daten sei es wichtig, die Anzahl der neu gemeldeten Fälle, die Einwohnerzahl und den Erhebungszeitraum zu berücksichtigen. „Ein Ausbruch beispielsweise in einer Einrichtung aus dem Viertel könnte die Inzidenz im Vergleich zu anderen Stadtteilen herausheben“, sagt er. In Hüttenheim hat es ein solches Ereignis aber nicht gegeben – jedenfalls scheint nichts bekannt zu sein.
„Wir bemühen uns auf allen Ebenen, die Regelungen auch in die Stadtteile zu kommunizieren, auch in jene, die besonders durch Zuwanderung geprägt sind“, sagt der Sprecher. Die Stadt hat wegen der anhaltend hohen Infektionszahlen ihre Aufklärungsarbeit in den besonders betroffenen Stadtteilen verstärkt. Fahrzeuge des Bürger- und Ordnungsamtes fahren mit Lautsprecherdurchsagen durch die „Hotspots“. „In verschiedenen Sprachen wird insbesondere auf das aktuelle Infektionsgeschehen aufmerksam gemacht. Außerdem wird erklärt, wie jeder dabei mithelfen kann, eine weitere Verbreitung des Virus zu vermeiden“, erklärt der Sprecher.
Naile Erol wohnt seit 40 Jahren in Hüttenheim – mittlerweile geschieden von ihrem Mann, der zurückgegangen ist in die Türkei. Sie aber ist geblieben, weil sie sich hier wohlfühlt. Nun hofft sie, dass ihre Tochter sie bald wieder besuchen kommt. „Dafür müssen aber erst die Werte wieder deutlich nach unten gehen“, sagt sie – möglichst unter einen Wert von 100. Immerhin: Am Dienstag hat der Wert in Hüttenheim „nur noch“bei 317 gelegen. Aber: Er kann sich jederzeit wieder ändern – in beide Richtungen.