USA entfachen Streit um Impfstoff-Patente
Der Vorschlag von Präsident Joe Biden stößt in der Pharmaindustrie auf Ablehnung. Eine Einigung über die Welthandelsorganisation erscheint fraglich. An der Börse sackten die Aktienkurse der Unternehmen ab.
GENF Die Aktien der Impfstoff-Hersteller Biontech und Curevac haben an den Börsen deutlich nachgegeben. Grund dafür ist der Vorschlag der USA, den internationalen Patentschutz für Corona-Impfstoffe vorübergehend aufzuheben. Dieser Idee steht inzwischen auch die Europäische Union offen gegenüber. Die Aktie von Biontech verlor am Donnerstag bis zu 18,7 Prozent auf ein Zwei-Wochen-Tief von 130,80 Euro, Curevac brach um 15,7 Prozent auf ein Drei-Wochen-Tief von 80,70 Euro ein. Bereits am Mittwoch waren die Aktien von Pfizer und Moderna im US-Handel abgerutscht.
Die USA vollziehen mit ihrem Vorschlag eine 180-Grad-Wende und stellen sich auf die Seite von mehr als 100 meist armen Staaten. US-Präsident Joe Biden macht sich zum Fürsprecher der Entwicklungsländer. Sie alle eint der Wunsch, möglichst viele Menschen im globalen Süden schnell mit Vakzinen gegen die Jahrhundertseuche zu versorgen.
Die USA stünden zwar hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, sagte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai am Mittwoch. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach auf Twitter von einer „historischen Entscheidung“. Damit könne der Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe begegnet werden.
Zwar werden die festgefahrenen Patent-Beratungen in der Welthandelsorganisation (WTO) jetzt Fahrt aufnehmen. Es dürfte aber äußerst schwierig werden, eine gemeinsame Position zu finden, die alle 164 WTO-Mitglieder akzeptieren. Denn jedes Mitglied hat ein Vetorecht. Länder mit Pharmaindustrie wie Deutschland, Großbritannien und die Schweiz werden versuchen, den Schaden für ihre Industrie so klein wie möglich zu halten.
Ohnehin bestehen grundsätzliche Zweifel an der US-Forderung: Eine Aussetzung des Patentschutzes führt nicht automatisch zu einer raschen Ausweitung der Impfungen in armen Ländern. Die Produktion der Impfdosen gegen Covid-19 stellt für europäische und US-amerikanische Pharma-Firmen eine zeitraubende, multidimensionale Herausforderung dar. Neben der Rezeptur brauchen sie die nötigen industriellen Kapazitäten, Know-how, Fachleute, Logistik und finanzielle Ressourcen. Und sie müssen über die nötigen Lieferketten verfügen. Ein Beispiel: Einer der führenden Impfstoffe gegen Covid-19 besteht aus 280 Komponenten, die 86 Firmen aus 19 Ländern bereitstellen.
Deutsche Pharma-Firmen lehnen den US-Vorschlag ab. Niemand könne in weniger als sechs
Monaten eine Produktion hochziehen, teilte der Verband Forschender Arzneimittelhersteller mit. „Und im nächsten Jahr werden die jetzigen Hersteller schon nach heutigem Planungsstand mehr Impfstoff-Dosen produzieren, als die Weltbevölkerung benötigt“, sagte Verbandspräsident Han Steutel.
Auch die deutschen Impfstoff-Hersteller Curevac und Biontech äußerten sich ablehnend. „Der Herstellungsprozess von mRNA ist ein komplexer Prozess, der über mehr als ein Jahrzehnt entwickelt wurde“, teilte Biontech in Mainz mit. Es brauche erfahrenes Personal und Rohmaterialien, die für die Verwendung freigegeben werden müssten. Wenn eine der Anforderungen nicht erfüllt sei, könnten Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs weder vom Hersteller noch vom Entwickler gewährleistet werden. „Dies könnte die Gesundheit der Geimpften gefährden.“
Die Pharmaindustrie argumentiert, dass sie auf eigenes Risiko Millionen in die Forschung investiert. Die allermeisten Projekte versanden irgendwann. Wenn aber einmal ein erfolgreiches Mittel dabei herauskomme, müsse das Unternehmen auch Rendite machen können, um die Investitionen wieder hereinzuholen und Aktionäre zu belohnen.
Der Weltärztebund forderte die Hersteller auf, Patente eigenständig freizugeben. „Die Pharmaindustrie könnte jetzt die ganze Menschheit voranbringen, wenn sie freiwillig auf die Ausübung ihrer Patentrechte für die Impfstoffe verzichtet“, sagte der Vorsitzende Frank Ulrich Montgomery den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. (mit dpa)