Zwischen Hui und Pfui
Borussia Dortmund kann in dieser Saison ein echter Herausforderer für Serienmeister Bayern München sein. Doch dafür muss die Gegentorquote der Schwarz-Gelben geringer werden – und vor allem muss das Team dafür erwachsener spielen.
DORTMUND Borussia Dortmund hat sich jüngst „frisches Geld“besorgt, wie das so schön heißt. Durch eine Kapitalerhöhung an der Börse flossen 85,5 Millionen Euro in den Geldspeicher des BVB. Das ist nicht nur „ein Meilenstein zur Überwindung der bisherigen wirtschaftlichen Lasten der Pandemie“, wie Hans-Joachim Watzke, der Vorsitzende der Geschäftsführung, feststellte. Es ist auch ein Zeichen an die Konkurrenz, dass der Fußballriese aus Westfalen den Kampf um die deutsche Meisterschaft immer noch nicht aufgegeben hat – trotz der Rückschläge im seit 2013 so ungleichen Rennen mit Bayern München.
Denn Geld schießt ja bekanntlich Tore. Ob es auch welche verhindert, ist im Falle des BVB zumindest noch nicht abschließend geklärt. In erst fünf Bundesligaspielen fing sich das Team des neuen Trainers Marco Rose bereits elf Gegentreffer ein – das ist ein Schnitt von 2,2 pro Spiel. Hochgerechnet wären das fast 75, der Wert eines Absteigers. „Auf Dauer“, sagt Kapitän Marco Reus, „kannst du das nicht durchhalten. Wir können nicht immer vier Tore schießen.“
Manchmal können die Dortmunder das schon, relativ häufig sogar. Ihre Bilanz der ersten fünf Spiele: 5:2 gegen Frankfurt, 1:2 in Freiburg, 3:2 gegen Hoffenheim, 4:3 in Leverkusen, 4:2 gegen Union Berlin. Macht flotte 17 Treffer, 3,4 im Schnitt. Wiederum hochgerechnet: 115,6. Das wäre ein neuer Bundesliga-Rekord.
Solche Rechenspielchen taugen natürlich nur als Bestandsaufnahme und Beschreibung eines Augenblicks, sie zeigen die Probleme der Dortmunder und ihre Stärken. Probleme hat das künstlerisch hochentwickelte BVB-Ensemble regelmäßig in der Balance zwischen Hui und Pfui, zwischen zauberhaftem Schwung im Angriff und dem vergleichsweise grauen Abwehralltag. Augenfällig wird das in mangelhafter Ernsthaftigkeit im Zusammenspiel, in der Rückwärtsbewegung und in Konzentrationsschwächen bei gegnerischen Standardsituationen. „Da müssen wir besser verteidigen“, erklärt Reus, „wir müssen einfach erwachsener spielen.“Das heißt: Zur Not mal auf einen Kringel verzichten und stattdessen ein bisschen energischer zupacken. In der Fußballersprache: Dahin gehen, wo es weh tut – vorzugsweise, wo es dem Gegner weh tut.
Im Angriff klappt das ziemlich gut, da bereiten die Dortmunder ihren Gegnern regelmäßig tüchtig Schmerzen. Wenn die Kombinationsmaschine des BVB ins Laufen kommt, ist das nicht nur schön anzuschauen, sondern gelegentlich unwiderstehlich. Das liegt selbstverständlich auch an Erling Haaland, der am Ende der Verwertungskette steht und in fünf Bundesligaspielen der jungen Saison bereits sieben Tore erzielt hat. Neuerdings trifft er sogar mit dem Kopf, was trotz der beachtlichen Körpergröße von 1,94
Meter bislang nicht seine Spezialität war. Aber Sonderschichten mit Verteidiger Mats Hummels und Coach Edin Terzic in der vergangenen Saison zahlen sich nun aus. „Er hat viele Stärken, aber er arbeitet auch an seinen Schwächen“, sagt Hummels.
Das wäre ein guter Tipp für die ganze Kollektion von Hochbegabten, die Borussia Dortmund seit Jahren versammelt hat. Auch das hat Hummels erkannt. „Manchmal verfallen wir in das alte Muster“, sagte er nach dem 4:2 gegen Union, als zwischenzeitlich aus einem 3:0 ein 3:2 geworden war, „wir sind dann im Spiel mit dem Ball unseriös. Das ist schon so, seit ich wieder hier bin.“Immerhin also seit 2019. Was seiner Mannschaft noch fehlt an einem echten Herausforderer der Bayern, hat der Nationalverteidiger während seiner eigenen dreijährigen Dienstzeit in München erfahren. „Wir müssen immer scharf bleiben“, betont der Verteidiger, „bei den Bayern hast du elf Spieler, die 90 Minuten scharf bleiben.“
Der sorglose Sekundenschlaf im Spiel, der gelegentliche Hang zum überflüssigen Schlenker um des
Schlenkers willen, das, wie Reus sagt, Unerwachsene steht den Dortmundern noch im Weg. Auf der anderen Seite macht es zu einem gewissen Teil auch die Attraktivität des BVB-Spiels aus. Borussia Dortmund kann ihre Anhänger innerhalb einer Begegnung auf eine Achterbahn der Gefühle schicken. Besuche im Stadion bei BVB-Partien sind eigentlich immer Erlebnisse. Das alles zugunsten der reinen Zweckmäßigkeit aufzugeben, wäre Verrat am Stil der Borussia aus Westfalen. Das wissen alle Beteiligten. Darum geht es ihnen auch nicht. Und sie zeigen deshalb lieber nicht auf die Tabelle. Die bietet nämlich ein trügerisches Bild. Dortmund hat nur einen Punkt weniger als die Bayern. Beruhigend ist das trotzdem nicht, denn Dortmund hat sieben Gegentore mehr. Hier liegt der Schlüssel – siehe oben.