Weniger Waffen, mehr Biss
Nach der Bundestagswahl am Sonntag könnte auch bald die deutsche Nahost-Politik anders aussehen.
Als sich Bundesaußenminister Heiko Maas diese Woche bei der UNVollversammlung mit seinem neuen iranischen Kollegen Hussein Amirabdollahian zusammensetzte, war es ein Kennenlern- und ein Abschiedstreffen zugleich: Für Amirabdollahian war der Besuch in New York der erste Auftritt auf der großen Weltbühne, für Maas könnte er der letzte gewesen sein. Nach der Bundestagswahl am Sonntag wird Amirabdollahian mit einem anderen deutschen Außenminister verhandeln. Auch die deutsche Nahost-Politik dürfte sich nach der Wahl verändern. Ein Überblick.
Waffenexporte
Der Nahe Osten gehört zu den Hauptabnehmern deutscher Waffen. Von 2017 bis 2019 machten Ägypten, Algerien, Katar, SaudiArabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) nach einer Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit rund 6,1 Milliarden Euro etwa ein Drittel des Gesamtwerts deutscher Rüstungsexportgenehmigungen aus. Im vergangenen Jahr erhielten allein Ägypten und Katar nach Angaben der Bundesregierung grünes Licht für Waffenlieferungen aus Deutschland im Wert von etwa einer Milliarde Euro.
Stephan Roll, Nahost-Experte bei der SWP, erwartet nach der Wahl eine Neuregelung der deutschen Waffenexport-Politik. Das gelte vor allem bei einer Bundesregierung mit Beteiligung der Grünen, doch auch bei den anderen Parteien gebe es hier ein Problembewusstsein, sagte Roll unserer Redaktion. Zwar werde es keine 180-Grad-Wende bei den Rüstungslieferungen geben. „Aber bei einer veränderten Regierungskoalition könnten die Golf-Monarchien und die Staaten Nordafrikas weniger Waffen erhalten als bisher.“Denkbar seien auch neue Beschränkungen, die beispielsweise nur den Export rein defensiver Waffensysteme erlaubten.
Flüchtlinge
Seit dem Krisenjahr 2015 ist das Flüchtlingsthema eines der wichtigsten in der deutschen Nahost-Politik. Nun hat der Sieg der radikalislamischen Taliban in Afghanistan das Thema noch dringender gemacht. Nach der Wahl wird die neue Bundesregierung deshalb vor der Frage stehen, ob sie enger als bisher mit dem afghanischen Nachbarn Iran zusammenarbeiten soll. Die Regierung in Teheran droht immer wieder damit, die schon jetzt mehr als zwei Millionen afghanischen Flüchtlinge nach Europa weiterzuschicken.
„Der Iran wird versuchen, die Flüchtlingsfrage in den Beziehungen zu den Europäern als Druckmittel einzusetzen“, sagt Ali Fathollah-Nejad, Iran-Experte an der FU Berlin. Teheran wolle die Europäer zu Zugeständnissen in den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm bewegen. Da auch deutsche Politiker forderten, zur Verhinderung einer Fluchtwelle aus Afghanistan nach Europa mit afghanischen Nachbarstaaten zu sprechen, „könnte die iranische Strategie
durchaus Erfolg haben“, teilte Fathollah-Nejad unserer Redaktion mit.
Auch in einem anderen Bereich der Flüchtlingspolitik könnte es Neuerungen geben, meint Roll von der SWP. „Möglicherweise wird sich die neue Bundesregierung um eine Stärkung legaler Zugangswege bemühen“, sagte er. „Das Thema wird vor allem von den Grünen forciert. Da der legale Zuzug auch den Interessen der Wirtschaft entspricht – Stichwort Fachkräftemangel –, werden die Grünen dabei kaum gegen eine Wand rennen.“
Menschenrechte
Auf dem Papier sind die Menschenrechte ein Grundprinzip der deutschen Außenpolitik, doch in der Realität arbeitet Berlin aus wirtschaftlichen oder strategischen Gründen mit autokratischen Regimen zusammen. Wie andere Experten spricht sich Fathollah-Nejad für eine grundsätzliche Kursänderung aus: Statt autoritäre Regime zu stützen, sollte Deutschland demnach die Menschenrechte und die Stärkung der Zivilgesellschaften in den Mittelpunkt stellen. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Machterhalt autoritärer Regierungen nicht mit Stabilität gleichgesetzt werden sollte.
Eine solche Neuorientierung wäre vor allem bei einer Regierungsbeteiligung der Grünen möglich, meint Fathollah-Nejad. Zudem könnte die neue Bundesregierung zusammen mit der Biden-Administration in den USA vorgehen, die im Nahen Osten ebenfalls wieder mehr auf die Einhaltung der Menschenrechte hinwirken will. „Ein transatlantischer Konsens in dieser Frage wäre denkbar“, sagte er.
Roll erwartet keine grundlegende Wende in der Menschenrechtspolitik, hält es aber für denkbar, dass die neue Bundesregierung die Menschenrechtsprobleme im Nahen Osten offener ansprechen wird als bisher. „Missstände offener anzuprangern, wäre schon ein Fortschritt“,
sagte er.
Türkei
Mehr Kritik aus Deutschland kommt auch auf die Türkei zu. Die scheidende Bundesregierung sah sich in den vergangenen Jahren dem Vorwurf der Leisetreterei gegenüber der autokratischen Regierung in Ankara ausgesetzt. „Es wird härtere Töne geben, besonders wenn die neue Bundesregierung von SPD und Grünen getragen wird“, sagt Ebru Turhan, Europa-Expertin an der TürkischDeutschen Universität in Istanbul.
Insbesondere die Grünen fordern die Einhaltung von Menschen- und Frauenrechten ein. Auch SPD und Union beklagen in ihren Wahlprogrammen den Demokratie-Abbau in der Türkei. Dennoch dürften Deutschland und die Türkei weiter zusammenarbeiten, denn die beiden Länder seien in der Flüchtlingsund der Wirtschaftspolitik aufeinander angewiesen, sagte Turhan. „Es wird keinen Bruch geben“, ist sie sicher.