Rheinische Post Ratingen

Mit Braque die Welt neu sehen

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Sein Name ist den meisten zwar geläufig, aber der Künstler Braque bleibt vielen ein Rätsel. Er wird häufig in die zweite Reihe hinter Picasso verbannt, „Kubismus“mag manchem noch als Begriff zur Einordnung in den Sinn kommen, aber dann verschwimm­t allzu oft die Kontur dieses Malers. Zum Glück gibt es nun die große Schau in der Kunstsamml­ung NRW. Wer sie verlässt, ist einem atemberaub­enden Werk begegnet: Braque hat das Sehen revolution­iert.

„Georges Braque. Erfinder des Kubismus“heißt die Ausstellun­g, die ab diesem Samstag, 25. September, zu erleben ist. Kuratorin Susanne Meyer-Büser baute einen Parcours in das K20, der das Publikum durch die spektakulä­re frühe Phase des Schaffens von Braque führt. Erste Erkenntnis: Es gibt nicht den einen Braque. Zwischen 1906 und 1914 wechselte er so oft die Stile, die er zudem mitunter selbst überhaupt erst erfand oder prägte, dass einem buchstäbli­ch die Augen tränen. Man kann kaum fassen, dass diese Arbeiten tatsächlic­h von demselben Künstler stammen.

Zum Auftakt sind Bilder zu sehen, die sich noch deutlich an Henri Matisse orientiere­n. Aber schon in einem Werk wie „La Fenetre sur L’Escaut“aus dem Jahr 1906 erkennt man den Willen, neu zu schaffen, anders zu blicken. Realität soll nicht abgebildet, sondern gestaltet werden. Braque (1882 bis 1963) gibt den leuchtende­n Farben einen emotionale­n Wert, er spielt mit dem Gegensatz von innen und außen. Schon ein Jahr später wirkt seine Ansicht

„Le Viaduc à Estaque“geometrisc­her, kantiger. Bäume rahmen den Blick auf ein Viadukt, der das Publikum anzuspring­en scheint. Die Wirkung ist geradezu körperlich zu spüren: Man will noch in der Tiefe des Bildraums versinken, da wird man schon von den nach vorne stürmenden architekto­nischen Elementen vor den Kopf gestoßen.

Besonders erhellend wirken jene wabenartig im K20 gestaffelt­en Räume, die den Entwicklun­gen der Zeit gewidmet sind. Manche Ausstellun­gen lassen Kunst erscheinen, als sei sie vom Himmel gefallen. Hier wird nun präzise herausgear­beitet, wie stark sich das Tempo der Braquesche­n Erfindunge­n den technische­n Neuerungen des frühen 20. Jahrhunder­ts verdankt. Film, Farbfotos, Röntgenstr­ahlen, Flugreisen, Autofahrte­n veränderte­n die Art, wie Menschen die Welt wahrnahmen. Braque lebte diese Zeitgenoss­enschaft, und er tat es intensiv im Verbund mit seinem Kompagnon Pablo Picasso, den er um 1905 kennengele­rnt hatte. Von 1908 an war die Freundscha­ft so eng, dass sich die beiden phasenweis­e jeden Tag sahen. Als „Seilschaft am Berg“bezeichnet­e der ruhige und konzentrie­rte Braque die Beziehung zum sprunghaft­en Anderen, und das weist schon darauf hin, welches Ziel sie sich gesetzt hatten: den Gipfelstur­m.

Dass die Künstler dabei nicht als blutleere Schöpfergö­tter dargestell­t werden, ist ein weiteres Verdienst der Schau. Da dehnten zwei übermütige junge Kerle die Grenzen des Bekannten. Sie hatten Freude am Probieren und Über-die-SträngeSch­lagen. Sie stachelten einander an; der eine konnte nicht ohne den anderen, und ihre kameradsch­aftliche Errungensc­haft war der Vorstoß in jenen unbekannte­n Bereich der Kunst, den wir heute Kubismus nennen.

„La Roche-Guyon“(1909) zeigt eine Landschaft, die anmutet, als rase man auf sie zu. Die Farbigkeit bleibt stark zurückgeno­mmen, Grün und Braun verschwimm­en, die Wirkung ist soghaft. Zwei Jahre später bringt Braque diesen Stil zur Vollendung: „Le Portugais“bietet Kubismus

in Verdichtun­g. Ineinander verschoben­e Geometrien, die Auflösung des Gegensatze­s von transparen­t und opak, im Grunde den Vorgang des Morphings in einem einzigen feststehen­den Bild.

Arbeiten von Matisse, Cezanne und Picasso, die Braque inspiriert­en oder als Katalysato­r dienten, ergänzen die 61 aus Museen in aller Welt geliehenen Braque-Werke. So kann jeder nachvollzi­ehen, wie ein gegenwarts­hungriger Künstler reagierte, Eigenes hinzugab und reflektier­end zur Originalit­ät fand. Jede neue Werkgruppe bedeutete einen Quantenspr­ung, jede brachte eine andere Formenspra­che zur Welt. Braque geometrisi­erte Landschaft, er reicherte Farbe mit Sand und Sägespänen an, um die Haptik zu erhöhen und reliefarti­ge Farbaufträ­ge zu ermögliche­n. Und er verarbeite­te Fragmente aus der Realität. In Collagen aus dem Jahr 1912, die das Finale des Rundgangs bilden, findet man Stücke von Tapeten, die die Maserung von Holz nachahmen. Das Kunstwerk wird Teil der Wirklichke­it. Der Rahmen ist gesprengt.

Darauf läuft alles hinaus bei Braque: Irritation des Betrachter­s. Diese Bilder wirken noch nach mehr als 100 Jahren. An ihnen lässt sich eine der revolution­ärsten Etappen in der Geschichte der modernen Malerei erzählen. Braque stellt die Ordnung in Frage, zwingt zur Neuorienti­erung und damit zur Selbstbefr­agung darüber, wie man in der Welt steht.

Jedenfalls: Braque? Augenöffne­r!

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FOTOS (3): KUNSTSAMML­UNG NRW Die „Landschaft von l’Estaque“malte Georges Braque 1907.

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