Mit Braque die Welt neu sehen
DÜSSELDORF Sein Name ist den meisten zwar geläufig, aber der Künstler Braque bleibt vielen ein Rätsel. Er wird häufig in die zweite Reihe hinter Picasso verbannt, „Kubismus“mag manchem noch als Begriff zur Einordnung in den Sinn kommen, aber dann verschwimmt allzu oft die Kontur dieses Malers. Zum Glück gibt es nun die große Schau in der Kunstsammlung NRW. Wer sie verlässt, ist einem atemberaubenden Werk begegnet: Braque hat das Sehen revolutioniert.
„Georges Braque. Erfinder des Kubismus“heißt die Ausstellung, die ab diesem Samstag, 25. September, zu erleben ist. Kuratorin Susanne Meyer-Büser baute einen Parcours in das K20, der das Publikum durch die spektakuläre frühe Phase des Schaffens von Braque führt. Erste Erkenntnis: Es gibt nicht den einen Braque. Zwischen 1906 und 1914 wechselte er so oft die Stile, die er zudem mitunter selbst überhaupt erst erfand oder prägte, dass einem buchstäblich die Augen tränen. Man kann kaum fassen, dass diese Arbeiten tatsächlich von demselben Künstler stammen.
Zum Auftakt sind Bilder zu sehen, die sich noch deutlich an Henri Matisse orientieren. Aber schon in einem Werk wie „La Fenetre sur L’Escaut“aus dem Jahr 1906 erkennt man den Willen, neu zu schaffen, anders zu blicken. Realität soll nicht abgebildet, sondern gestaltet werden. Braque (1882 bis 1963) gibt den leuchtenden Farben einen emotionalen Wert, er spielt mit dem Gegensatz von innen und außen. Schon ein Jahr später wirkt seine Ansicht
„Le Viaduc à Estaque“geometrischer, kantiger. Bäume rahmen den Blick auf ein Viadukt, der das Publikum anzuspringen scheint. Die Wirkung ist geradezu körperlich zu spüren: Man will noch in der Tiefe des Bildraums versinken, da wird man schon von den nach vorne stürmenden architektonischen Elementen vor den Kopf gestoßen.
Besonders erhellend wirken jene wabenartig im K20 gestaffelten Räume, die den Entwicklungen der Zeit gewidmet sind. Manche Ausstellungen lassen Kunst erscheinen, als sei sie vom Himmel gefallen. Hier wird nun präzise herausgearbeitet, wie stark sich das Tempo der Braqueschen Erfindungen den technischen Neuerungen des frühen 20. Jahrhunderts verdankt. Film, Farbfotos, Röntgenstrahlen, Flugreisen, Autofahrten veränderten die Art, wie Menschen die Welt wahrnahmen. Braque lebte diese Zeitgenossenschaft, und er tat es intensiv im Verbund mit seinem Kompagnon Pablo Picasso, den er um 1905 kennengelernt hatte. Von 1908 an war die Freundschaft so eng, dass sich die beiden phasenweise jeden Tag sahen. Als „Seilschaft am Berg“bezeichnete der ruhige und konzentrierte Braque die Beziehung zum sprunghaften Anderen, und das weist schon darauf hin, welches Ziel sie sich gesetzt hatten: den Gipfelsturm.
Dass die Künstler dabei nicht als blutleere Schöpfergötter dargestellt werden, ist ein weiteres Verdienst der Schau. Da dehnten zwei übermütige junge Kerle die Grenzen des Bekannten. Sie hatten Freude am Probieren und Über-die-SträngeSchlagen. Sie stachelten einander an; der eine konnte nicht ohne den anderen, und ihre kameradschaftliche Errungenschaft war der Vorstoß in jenen unbekannten Bereich der Kunst, den wir heute Kubismus nennen.
„La Roche-Guyon“(1909) zeigt eine Landschaft, die anmutet, als rase man auf sie zu. Die Farbigkeit bleibt stark zurückgenommen, Grün und Braun verschwimmen, die Wirkung ist soghaft. Zwei Jahre später bringt Braque diesen Stil zur Vollendung: „Le Portugais“bietet Kubismus
in Verdichtung. Ineinander verschobene Geometrien, die Auflösung des Gegensatzes von transparent und opak, im Grunde den Vorgang des Morphings in einem einzigen feststehenden Bild.
Arbeiten von Matisse, Cezanne und Picasso, die Braque inspirierten oder als Katalysator dienten, ergänzen die 61 aus Museen in aller Welt geliehenen Braque-Werke. So kann jeder nachvollziehen, wie ein gegenwartshungriger Künstler reagierte, Eigenes hinzugab und reflektierend zur Originalität fand. Jede neue Werkgruppe bedeutete einen Quantensprung, jede brachte eine andere Formensprache zur Welt. Braque geometrisierte Landschaft, er reicherte Farbe mit Sand und Sägespänen an, um die Haptik zu erhöhen und reliefartige Farbaufträge zu ermöglichen. Und er verarbeitete Fragmente aus der Realität. In Collagen aus dem Jahr 1912, die das Finale des Rundgangs bilden, findet man Stücke von Tapeten, die die Maserung von Holz nachahmen. Das Kunstwerk wird Teil der Wirklichkeit. Der Rahmen ist gesprengt.
Darauf läuft alles hinaus bei Braque: Irritation des Betrachters. Diese Bilder wirken noch nach mehr als 100 Jahren. An ihnen lässt sich eine der revolutionärsten Etappen in der Geschichte der modernen Malerei erzählen. Braque stellt die Ordnung in Frage, zwingt zur Neuorientierung und damit zur Selbstbefragung darüber, wie man in der Welt steht.
Jedenfalls: Braque? Augenöffner!