Hinrichtungswelle im Iran
Seit der Hardliner Ebrahim Raisi im Juni 2021 Präsident des Landes geworden ist, steigt die Zahl der Menschen, die gehenkt werden, sprunghaft. Menschenrechtler fordern mehr Druck auf Teheran.
Zahra Esmaili wartete auf den Galgen. Doch bevor die Iranerin an der Reihe war, musste sie in einem Gefängnis in der Stadt Karaj bei Teheran der Hinrichtung von 16 Männern zuschauen. Beim Anblick der Gehenkten erlitt Esmaili einen Herzinfarkt und starb – ihre Leiche wurde trotzdem gehenkt, wie ihr Anwalt berichtete. Esmaili, die ihren gewalttätigen Mann in Notwehr getötet hatte, und ihre Leidensgenossen gehören zu den Opfern einer neuen Hinrichtungswelle in der Islamischen Republik.
Mindestens 333 Menschen wurden 2021 im Iran hingerichtet, das waren 25 Prozent mehr als 2020, haben die Organisation Menschenrechte Iran (IHRNGO) mit Sitz in Norwegen und der französische Verband Gemeinsam gegen die Todesstrafe (ECPM) ermittelt. Auffällig sei ein sprunghafter Anstieg der Hinrichtungen nach dem Wahlsieg von Präsident Ebrahim Raisi im vorigen Juni gewesen, halten die Organisationen in einem Bericht fest: In der zweiten Hälfte 2021 seien doppelt so viele Menschen gehenkt worden wie in der ersten.
Eine weitere Vergleichszahl: In Saudi-Arabien wurden im März 81 Verurteilte an einem einzigen Tag hingerichtet. Insgesamt liegt die Zahl der Hinrichtungen im saudischen Königreich damit bei etwa einem Fünftel der Zahl im Iran.
Präsident Raisi ist ein überzeugter Anhänger der Todesstrafe. Der
Hardliner, ein ehemaliger Chef der iranischen Justiz, war im Jahr 1988 an der Massenhinrichtung von Tausenden angeblichen Gegnern der islamischen Revolution beteiligt. Sein Amtsantritt im vergangenen Jahr markierte eine Trendwende.
In den letzten Amtsjahren seines Vorgängers Hassan Ruhani war die Zahl der Hinrichtungen gesunken. Die Schwelle für die Verhängung der Todesstrafe wegen Drogenhandels wurde unter Ruhani drastisch angehoben: Vor der Reform konnte der Besitz von 30 Gramm Heroin oder Kokain mit dem Tod geahndet werden, nach der Gesetzesänderung lag die Menge bei zwei Kilogramm.
Raisi lässt diese Liberalisierung nun wieder kassieren: Nach dem Bericht von IHRNGO und ECPM verfünffachten sich im vergangenen Jahr die Hinrichtungen wegen Drogenbesitzes. Zudem wird die Opposition mit Hinrichtungen eingeschüchtert. Im Dezember wurde ein kurdischer Aktivist exekutiert, nachdem ihm unter Folter ein Mordgeständnis abgepresst worden war, wie Menschenrechtler berichteten. Nach Einschätzung von Amnesty International benutzt der Iran die Todesstrafe „zunehmend als Instrument der Repression gegen Dissidenten, Demonstranten und Mitglieder ethnischer Minderheiten“. Das Europa-Parlament warf dem Iran im Februar außerdem vor, mit der Todesstrafe besonders Frauen zu unterdrücken.
Teheran ignoriert Kritik aus dem Ausland und setzt die Drohung mit der Todesstrafe in einigen Fällen für politische Zwecke ein. Iranische Medien meldeten jetzt, der seit sechs Jahren inhaftierte schwedisch-iranische Mediziner Ahmadreza Djalali werde in den kommenden Wochen wegen Spionage für Israel gehenkt. Seit Djalalis Festnahme 2016 drohte der Iran bereits mehrmals mit seiner Hinrichtung.
Die jüngste Ankündigung könnte mit einem schwedischen Strafprozess
gegen einen iranischen Beamten zusammenhängen, der wie Präsident Raisi an den Massenexekutionen von 1988 beteiligt gewesen sein soll: Hamid Nouri wurde im Jahr 2019 in Stockholm nach dem Weltrechtsprinzip festgenommen und vor ein Gericht gestellt; das Urteil wird im Juli dieses Jahres erwartet. Der iranische Außenminister Hossein Amirabdollahian forderte jetzt in einem Telefonat mit seiner schwedischen Kollegin Ann Linde die Freilassung von Nouri – am selben Tag wurde Djalalis Hinrichtung angekündigt. Kurz darauf wurde ein weiterer Staatsbürger im Iran festgenommen.
Menschenrechtler fordern mehr Druck der internationalen Gemeinschaft auf den Iran. Derzeit verhandelt Teheran zwar mit Europa, den USA, Russland und China über eine Wiederbelebung des Atomabkommens aus dem Jahr 2015; die Menschenrechte und die Todesstrafe spielen dabei aber keine Rolle. IHRNGO-Direktor Mahmood Amiry-Moghadam vermutet, dass die Gesprächspartner Irans über die schweren Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen, um die Atomverhandlungen nicht zu gefährden: „Der Iran steht derzeit weniger unter Beobachtung.“