Türkei will 3,6 Millionen Syrer in die Heimat zurückschicken
ISTANBUL Istanbul im Mai 2043: Ein junger Türke wird von Arabern durch die Straßen gejagt. Seinen Eltern berichtet der junge Mann, der eigentlich Arzt werden wollte, von seinem Hilfsjob in einem Krankenhaus, in dem Türkisch verboten ist, weil weder Mediziner noch Patienten die Landessprache sprechen. Warum die ältere Generation denn nichts getan habe, als es noch möglich gewesen sei, fragt er anklagend. „Ich wünschte, wir hätten etwas getan“, erwidert sein Vater im Kurzfilm „Lautlose Invasion“der türkischen Journalistin Hande Karacasu.
Populistische Warnungen vor einer Überfremdung durch arabische Zuwanderer haben derzeit Hochkonjunktur in der Türkei. Bezahlt wurde „Lautlose Invasion“von dem rechtspopulistischen Politiker Ümit Özdag, dessen neu gegründete Siegespartei die 3,6 Millionen Syrer in der Türkei nach Hause schicken will. Damit steht er nicht am Rand des politischen Spektrums, sondern im Zentrum. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu verspricht, im Falle eines Sieges bei den Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in einem Jahr die Syrer innerhalb von zwei Jahren in ihre Heimat zurückzuschicken.
Acht von zehn Türken stimmen der Forderung nach Heimkehr der Syrer zu. Unter den Anhängern der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan fordern sogar 85 Prozent die Rückkehr der Syrer, die sie für Jobmangel, Wohnungsnot und Straßenkriminalität verantwortlich machen. In der Presse wird die Forderung nach Zwangsabschiebungen laut.
Bisher stellte sich Erdogan gegen den Trend. Doch jetzt schwenkt der Präsident auf die Linie der Opposition um. Massenfestnahmen von Flüchtlingen sollen zeigen, dass die Regierung auf die Beschwerden aus der Bevölkerung reagiert. Allein in Istanbul wurden jetzt innerhalb einer Woche mehr als 3000 Flüchtlinge festgenommen, die keine gültigen Papiere hatten.
Erdogan versprach außerdem, seine Regierung werde eine Million Syrer zur freiwilligen Heimkehr in ihr Land bewegen. Zusammen mit internationalen und syrischen Organisationen werde Ankara in den türkisch kontrollierten Teilen von Nordsyrien neue Häuser, Kliniken und Schulen bauen. Die Türkei hält mehrere Gebietsstreifen in Syrien militärisch besetzt, um die kurdische Miliz YPG von der Grenze fernzuhalten.
Die Idee, Flüchtlinge in syrischen Gebieten außerhalb des Machtbereichs der Regierung in Damaskus unterzubringen, wird bereits seit Jahren diskutiert. Anfang 2020 hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel der Türkei 25 Millionen Euro für den Bau von Notunterkünften für Flüchtlinge in der Provinz Idlib angeboten. Damit sollten die Menschen
von einer Flucht in die Türkei abgehalten werden.
Eine dauerhafte Rück-Ansiedlung von Syrern in türkisch kontrollierten Zonen wäre heikel, weil sie ohne Zustimmung aus Damaskus vollzogen würde und als Anerkennung der türkischen Politik in Syrien verstanden werden könnte. Ob die EU bei Erdogans Plan mitmachen werden, ist offen. Bisher hilft die EU bei der Versorgung von Syrern in der Türkei und unterstützt die Uno bei der Hilfe für syrische Zivilisten in Syrien.
Ungeklärt ist auch, wie die Syrer in der Türkei zur Rückkehr bewegt werden könnten. Ihr Heimatland liegt in Trümmern, das Regime von Staatschef Baschar al-Assad betrachtet sie als Abtrünnige und potenzielle Terroristen. Viele Syrer sind schon seit Jahren in der Türkei, rund 750.000 syrische Kinder sind in der Türkei geboren worden. In Umfragen sagen 75 Prozent der Syrer in der Türkei, sie wollten bleiben. Sowohl Erdogan als auch die Opposition schließen Zwangsabschiebungen bisher aus. Sie haben bisher aber nicht erklärt, wie sie es sonst schaffen wollen, Hunderttausende Menschen nach Hause zu schicken.
Sollte die Türkei die Syrer zur Heimkehr zwingen wollen, bekäme Europa die Folgen zu spüren. Dann könnten wie bei der Massenflucht vor sieben Jahren Hunderttausende Menschen in Boote nach Griechenland steigen, sagte der syrische Migrationsexperte Omar Kadkoy von der Denkfabrik Tepav in Ankara unserer Redaktion: Die Ägäisküste könne erneut „die Szenen von 2015 und 2016“erleben.
Acht von zehn Türken stimmen der Forderung nach Heimkehr der Syrer zu