„Ich habe eine traurige Nachricht“
Wenn ein Mensch tödlich erkrankt oder plötzlich stirbt, muss es jemanden geben, der diese Nachricht überbringt. Wie Polizisten, Notfallseelsorger und Ärzte über den Tod sprechen – und was das mit ihnen macht.
DÜSSELDORF In dem Moment, in dem sein Finger über dem Klingelknopf schwebt, geht Gundolf de Riese-Meyer immer dasselbe durch den Kopf: Wenn er jetzt klingelt, bricht drinnen das Chaos aus. Manchmal wortwörtlich. Manche rasen und toben, schluchzen und schreien, zerhauen ihre Möbel und werfen sich auf den Boden. Andere erstarren und versteinern, wimmern und leugnen. Was passiert, wenn ein Mensch erfährt, dass der Vater, die Schwester, das Kind gestorben ist, ist unberechenbar.
Auch nach 15 Jahren bei der Polizei bekommt Gundolf de Riese-Meyer noch Gänsehaut in diesen Momenten. „Wer sich daran gewöhnt, mit dem stimmt etwas nicht“, sagt der Polizeihauptkommissar. Stirbt ein Mensch eines unnatürlichen Todes, ist es Aufgabe der Polizei, die Angehörigen zu benachrichtigen. Als Leiter des Verkehrskommissariats hat Gundolf de Riese-Meyer diese Aufgabe schon oft übernommen – 450 Unfalltote hat er bei der Polizei erlebt. Er klingelte an fremden Türen, platzte in Geburtstagsfeiern hinein und wartete vor Klassenzimmern. Viele haben schon eine Ahnung, wenn er vor der Haustür steht. Sie fragen, ob etwas ist mit dem Vater, der Schwester, dem Kind. Die Antwort ist: ja.
In seinem kleinen Büro unter dem Dach der Polizeiwache in Derendorf sitzt de Riese-Meyer hinter dem Schreibtisch. An der Pinnwand hängen Briefe und selbstgemalte Bilder von Familien, die er betreut hat. Manche sieht er nur einmal, andere begleitet er jahrelang. Der Polizist spricht über seine Arbeit ruhig und überlegt, manchmal nachdenklich. Der Tod ist Teil seines Berufs, seines Lebens. Als Fliesenleger hat man kaputte Knie und dicke Hände. Als Polizist hat man Kratzer auf der Seele. Berufsrisiko, sagt er.
Elf Menschen verunglückten 2021 tödlich auf Düsseldorfer Straßen – elf Familien, in denen das Chaos ausgebrochen ist. Sobald die Identität einer toten oder lebensgefährlich verletzten Person feststeht, macht sich die Polizei auf den Weg. Das ist auch ein Wettlauf mit den sozialen Medien. Es komme nicht selten vor, dass Angehörige schon an der Unfallstelle stehen, bevor die Polizei ihre Arbeit beendet hat.
Steht Gundolf de Riese-Meyer dann vor einer Haustür, ist er vorbereitet. Er weiß, auf welcher Straße der Unfall passiert ist, ob jemand bei dem Sterbenden war, was die letzten Worte waren. „Die Angehörigen haben 100 Fragen. 99 kann ich beantworten. Nur die eine nicht: Warum mein Mann, meine Tochter, meine Mutter?“Raum für falsche Hoffnung lässt er niemals. „Wie sicher ist es?“„Hundertprozentig.“
Viele wollen sich ins Auto setzen, zum Unfallort oder ins Krankenhaus fahren. Einmal hat sich ein Mann ein Messer geschnappt und ist damit rausgerannt. Die Polizisten fahren darum meist zu zweit in die Familien. Der eine spricht, der andere räumt herumliegende Messer weg, hindert die Angehörigen daran, aufzuspringen und sich ins Auto zu setzen. Das Wichtigste aber sei, die Stille auszuhalten, sagt de Riese-Meyer.
Nur wenige Polizisten sind für das Überbringen der Todesnachricht ausgebildet. Die Einsätze nehmen viele Beamte mit, sie leiden unter Belastungsstörungen. Darum gibt es eine klare Trennung: Wer die Unfallaufnahme
macht, wer den zerstörten Wagen und die tote Person gesehen hat, überbringt der Familie nicht die Nachricht, sagt de RieseMeyer. Anders als früher sei psychosoziale Unterstützung bei der Polizei mittlerweile normal, Schwäche zeigen ebenso.
Trotzdem gibt es Momente, die ihn aus der Bahn werfen. Etwa wenn er Eltern sagen muss, dass ihr Sohn ums Lebens gekommen ist, der so alt ist und so ähnlich aussah wie sein eigenes Kind. Oder wenn er die Regeln brechen muss. Die lauten: nicht lügen und nicht telefonisch. Nach dem Tod einer 23 Jahre alten Radfahrerin, die auf der Haroldstraße von einem Auto erfasst wurde, ging das nicht. Die Eltern leben in Luxemburg, er musste die zweite Regel brechen. „Sitzen Sie im Auto? Ist der Motor aus? Sind Sie bei Ihrer Frau? Ist der Lautsprecher an?“Zwei Sekunden habe er nichts gesagt, das sei Botschaft genug gewesen. Dann: „Ich habe eine traurige Nachricht. Ihre Tochter ist gestorben.“Und im Auto brach das Chaos aus.
Vor elf Jahren hat de Riese-Meyer das Unfallaufnahmeteam bei der Polizei gegründet. Es geht darum, den Unfall so gut wie möglich zu rekonstruieren, um die Ursache zu klären – mit Beleuchtung, Kameras, Drohnen. Nicht nur für mögliche Gerichtsverfahren ist das notwendig, sondern auch für die Angehörigen. „Eine gute Unfallaufnahme ist praktizierte Opferhilfe“, sagt de Riese-Meyer. Wer Klarheit hat, kann besser abschließen.
Haben die Polizisten die Wohnung verlassen, bleibt oft ein Notfallseelsorger zurück. So wie ein Notarzt eine verletzte Person versorgt, tun das auch die Notfallseelsorger – sie leisten erste Hilfe für die Seele. Einer von ihnen ist Olaf Schaper. „Derjenige, der die Todesnachricht überbringt, verbrennt oftmals für die Angehörigen“, sagt der Pfarrer. „Darum bleiben wir, wenn die Polizei geht.“
Wie die Seelsorger vorgehen, folgt keinen Regeln. Mal beruhigen sie, mal schweigen sie, mal nehmen sie in den Arm oder kochen Kaffee. Wenn die Angehörigen es wünschen, bitten sie um den Segen für den Toten. „Der Trauernde führt“, sagt Schaper. „Wir müssen aushalten, was ist.“Manche schweigen, viele haben Fragen. Manchmal ist es auch Olaf Schaper, der fragt. „Woran denken Sie gerade? Gibt es Menschen, die Sie informieren wollen? Wen möchten Sie bei sich haben?“Die Notfallseelsorger der katholischen und evangelischen Kirche aktivieren auch ihr Netzwerk: Sie haben Kontakte zur Rechtsmedizin, zum Traumazentrum, zu Vereinen, die helfen beim Organisatorischen und beim Verarbeiten.
Die Notfallseelsorger kommen immer hinzu bei Unfällen mit vielen Verletzten oder mit Kindern und bei Schienensuiziden. Notärzte können das Team aber auch in anderen Fällen
einschalten, wenn die Familien seelische Unterstützung brauchen. Die häufigsten Einsätze im vergangenen Jahr waren Todesfälle in Wohnungen, Suizide, Überbringen von Todesnachrichten und Verkehrsunfälle. Auch bei der Flutkatastrophe im Ahrtal waren die Düsseldorfer Seelsorger im Einsatz, ebenso 2015 beim Absturz der GermanwingsMaschine.
Die Einsatzzahlen haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, die meisten Einsätze übernehmen Ehrenamtliche. Um auf diese schwierige Aufgabe vorbereitet zu sein, bekommen die Notfallseelsorger eine einjährige Ausbildung. An elf Wochenenden lernen sie, wie man erste Hilfe für die Seele leistet. Teil davon ist auch: zu lernen, sich selbst abzugrenzen. Die Tür schließen, nennt Olaf Schaper das, auch wenn diese manchmal wieder aufspringt.
Auch viele Ärzte kennen das Gefühl, am Ende des Arbeitstages eine Tür hinter sich schließen zu müssen. André Karger leitet die Psychoonkologie am Düsseldorfer Universitätsklinikum und betreut Menschen mit Krebserkrankungen. Jedes Jahr erkranken fast 500.000 Deutsche an Krebs, die Hälfte der Patienten unheilbar. Wie sagt man einem Menschen, dass er sterben muss? „Das ist eine der herausforderndsten Situationen für die Ärzte“, sagt Karger. „Beim Überbringen schlechter Nachrichten werden die Themen Tod und Sterben oft vermieden, zum Nachteil aller Beteiligten.“
Das zeigte sich etwa während der Corona-Pandemie auf den Intensivstationen. Die Betten waren voll mit
Covid-Patienten, nicht wenige, die schwer erkrankt waren und künstlich beatmet werden mussten, starben daran. „Da haben die Intensivmediziner Alarm geschlagen. Sie waren keine wachen Patienten gewohnt, mit denen sie über den Tod sprechen müssen“, sagt Martin Neukirchen, der die Palliativmedizin an der Uniklinik leitet. Sein Team begleitet jährlich 1000 Patientinnen und Patienten in den Tod, oft nach langwierigen Krankheiten. Die Betreuung der Angehörigen, sagt Neukirchen, fülle ein Drittel seiner Arbeit. Und manchmal braucht eben auch das Personal Unterstützung. In der Hochphase der Pandemie habe es darum Hilfe für die Mitarbeiter der Intensivstation gegeben. Kommunikationsseminare, um solche Patientengespräche zu üben, und Supervisionsangebote, um das Erlebte selbst zu verarbeiten.
Das Wichtigste beim Überbringen der Todesnachricht: Offenheit und klare Worte. Die meisten Patienten wollten über den Elefanten sprechen, der da plötzlich im Raum steht, sagen die Ärzte. Oft brauche es mehrere Gespräche und viel Zeit, um über den Tod und das Sterben, Ängste und Hoffnungen zu sprechen. Denn nicht immer sei die Diagnose „unheilbar“ein Todesurteil, einige Patienten leben mit den richtigen Therapien noch viele Jahre. „Ein ehrliches Gespräch zerstört keine Hoffnungen“, sagt Neukirchen. „Und die Todesangst schwindet, je mehr sich ein Mensch mit dem eigenen Ende auseinandersetzt.“
Viele Menschen leugnen die Diagnose zunächst, einige Patienten ziehen sich komplett zurück, andere wollen alles wissen. „Wie lange habe ich noch?“, fragen viele. Die Ärzte sagen klar, wenn es ausweglos ist. Doch sie hüten sich davor, genaue Zahlen zu nennen. Martin Neukirchen habe auf der Palliativstation schon einen Patienten erlebt, der sich einen Timer gestellt hatte, nachdem er eine exakte Zeitangabe eines Arztes bekommen hatte. Darum solle man eher von Tagen bis Wochen, Wochen bis Monaten, Monaten bis Jahren sprechen. Wichtig sei, genau zu erklären, wie die Therapie ablaufen wird.
Um Sterbenden und Angehörigen zu helfen, tun die Polizisten, Notfallseelsorger und Ärzte alle eins: den Tod begreifbar machen. Krebspatienten das CT-Bild des Tumors erklären, Hinterbliebenen die persönlichen Gegenstände eines Toten geben, zusammen zur Unfallstelle fahren und die Markierungen auf dem Boden zeigen, ihnen ermöglichen, den toten Körper zu sehen, zumindest die Hand, wenn der Anblick des übrigen Körpers nicht zumutbar erscheint.
Wenn ein Mensch erfährt, dass der Vater, die Schwester, das Kind gestorben ist, gerät er in einen Strudel, sagt Polizist Gundolf de RieseMeyer. Die Gedanken drehen sich im Kreis, man rutscht von einer Frage in die nächste. Klare Antworten könnten zwar nicht verhindern, dass Hinterbliebene nachts um drei aufwachen und nicht mehr schlafen können. Aber den Strudel können sie stoppen.
„Die Angehörigen haben 100 Fragen. 99 kann ich beantworten. Nur die eine nicht: Warum mein Mann “Gundolf de Riese-Meyer Erster Polizeihauptkommissar