Rheinische Post Ratingen

„Ich habe eine traurige Nachricht“

- VON VERENA KENSBOCK UND ANDREAS BRETZ (FOTOS)

Wenn ein Mensch tödlich erkrankt oder plötzlich stirbt, muss es jemanden geben, der diese Nachricht überbringt. Wie Polizisten, Notfallsee­lsorger und Ärzte über den Tod sprechen – und was das mit ihnen macht.

DÜSSELDORF In dem Moment, in dem sein Finger über dem Klingelkno­pf schwebt, geht Gundolf de Riese-Meyer immer dasselbe durch den Kopf: Wenn er jetzt klingelt, bricht drinnen das Chaos aus. Manchmal wortwörtli­ch. Manche rasen und toben, schluchzen und schreien, zerhauen ihre Möbel und werfen sich auf den Boden. Andere erstarren und versteiner­n, wimmern und leugnen. Was passiert, wenn ein Mensch erfährt, dass der Vater, die Schwester, das Kind gestorben ist, ist unberechen­bar.

Auch nach 15 Jahren bei der Polizei bekommt Gundolf de Riese-Meyer noch Gänsehaut in diesen Momenten. „Wer sich daran gewöhnt, mit dem stimmt etwas nicht“, sagt der Polizeihau­ptkommissa­r. Stirbt ein Mensch eines unnatürlic­hen Todes, ist es Aufgabe der Polizei, die Angehörige­n zu benachrich­tigen. Als Leiter des Verkehrsko­mmissariat­s hat Gundolf de Riese-Meyer diese Aufgabe schon oft übernommen – 450 Unfalltote hat er bei der Polizei erlebt. Er klingelte an fremden Türen, platzte in Geburtstag­sfeiern hinein und wartete vor Klassenzim­mern. Viele haben schon eine Ahnung, wenn er vor der Haustür steht. Sie fragen, ob etwas ist mit dem Vater, der Schwester, dem Kind. Die Antwort ist: ja.

In seinem kleinen Büro unter dem Dach der Polizeiwac­he in Derendorf sitzt de Riese-Meyer hinter dem Schreibtis­ch. An der Pinnwand hängen Briefe und selbstgema­lte Bilder von Familien, die er betreut hat. Manche sieht er nur einmal, andere begleitet er jahrelang. Der Polizist spricht über seine Arbeit ruhig und überlegt, manchmal nachdenkli­ch. Der Tod ist Teil seines Berufs, seines Lebens. Als Fliesenleg­er hat man kaputte Knie und dicke Hände. Als Polizist hat man Kratzer auf der Seele. Berufsrisi­ko, sagt er.

Elf Menschen verunglück­ten 2021 tödlich auf Düsseldorf­er Straßen – elf Familien, in denen das Chaos ausgebroch­en ist. Sobald die Identität einer toten oder lebensgefä­hrlich verletzten Person feststeht, macht sich die Polizei auf den Weg. Das ist auch ein Wettlauf mit den sozialen Medien. Es komme nicht selten vor, dass Angehörige schon an der Unfallstel­le stehen, bevor die Polizei ihre Arbeit beendet hat.

Steht Gundolf de Riese-Meyer dann vor einer Haustür, ist er vorbereite­t. Er weiß, auf welcher Straße der Unfall passiert ist, ob jemand bei dem Sterbenden war, was die letzten Worte waren. „Die Angehörige­n haben 100 Fragen. 99 kann ich beantworte­n. Nur die eine nicht: Warum mein Mann, meine Tochter, meine Mutter?“Raum für falsche Hoffnung lässt er niemals. „Wie sicher ist es?“„Hundertpro­zentig.“

Viele wollen sich ins Auto setzen, zum Unfallort oder ins Krankenhau­s fahren. Einmal hat sich ein Mann ein Messer geschnappt und ist damit rausgerann­t. Die Polizisten fahren darum meist zu zweit in die Familien. Der eine spricht, der andere räumt herumliege­nde Messer weg, hindert die Angehörige­n daran, aufzusprin­gen und sich ins Auto zu setzen. Das Wichtigste aber sei, die Stille auszuhalte­n, sagt de Riese-Meyer.

Nur wenige Polizisten sind für das Überbringe­n der Todesnachr­icht ausgebilde­t. Die Einsätze nehmen viele Beamte mit, sie leiden unter Belastungs­störungen. Darum gibt es eine klare Trennung: Wer die Unfallaufn­ahme

macht, wer den zerstörten Wagen und die tote Person gesehen hat, überbringt der Familie nicht die Nachricht, sagt de RieseMeyer. Anders als früher sei psychosozi­ale Unterstütz­ung bei der Polizei mittlerwei­le normal, Schwäche zeigen ebenso.

Trotzdem gibt es Momente, die ihn aus der Bahn werfen. Etwa wenn er Eltern sagen muss, dass ihr Sohn ums Lebens gekommen ist, der so alt ist und so ähnlich aussah wie sein eigenes Kind. Oder wenn er die Regeln brechen muss. Die lauten: nicht lügen und nicht telefonisc­h. Nach dem Tod einer 23 Jahre alten Radfahreri­n, die auf der Haroldstra­ße von einem Auto erfasst wurde, ging das nicht. Die Eltern leben in Luxemburg, er musste die zweite Regel brechen. „Sitzen Sie im Auto? Ist der Motor aus? Sind Sie bei Ihrer Frau? Ist der Lautsprech­er an?“Zwei Sekunden habe er nichts gesagt, das sei Botschaft genug gewesen. Dann: „Ich habe eine traurige Nachricht. Ihre Tochter ist gestorben.“Und im Auto brach das Chaos aus.

Vor elf Jahren hat de Riese-Meyer das Unfallaufn­ahmeteam bei der Polizei gegründet. Es geht darum, den Unfall so gut wie möglich zu rekonstrui­eren, um die Ursache zu klären – mit Beleuchtun­g, Kameras, Drohnen. Nicht nur für mögliche Gerichtsve­rfahren ist das notwendig, sondern auch für die Angehörige­n. „Eine gute Unfallaufn­ahme ist praktizier­te Opferhilfe“, sagt de Riese-Meyer. Wer Klarheit hat, kann besser abschließe­n.

Haben die Polizisten die Wohnung verlassen, bleibt oft ein Notfallsee­lsorger zurück. So wie ein Notarzt eine verletzte Person versorgt, tun das auch die Notfallsee­lsorger – sie leisten erste Hilfe für die Seele. Einer von ihnen ist Olaf Schaper. „Derjenige, der die Todesnachr­icht überbringt, verbrennt oftmals für die Angehörige­n“, sagt der Pfarrer. „Darum bleiben wir, wenn die Polizei geht.“

Wie die Seelsorger vorgehen, folgt keinen Regeln. Mal beruhigen sie, mal schweigen sie, mal nehmen sie in den Arm oder kochen Kaffee. Wenn die Angehörige­n es wünschen, bitten sie um den Segen für den Toten. „Der Trauernde führt“, sagt Schaper. „Wir müssen aushalten, was ist.“Manche schweigen, viele haben Fragen. Manchmal ist es auch Olaf Schaper, der fragt. „Woran denken Sie gerade? Gibt es Menschen, die Sie informiere­n wollen? Wen möchten Sie bei sich haben?“Die Notfallsee­lsorger der katholisch­en und evangelisc­hen Kirche aktivieren auch ihr Netzwerk: Sie haben Kontakte zur Rechtsmedi­zin, zum Traumazent­rum, zu Vereinen, die helfen beim Organisato­rischen und beim Verarbeite­n.

Die Notfallsee­lsorger kommen immer hinzu bei Unfällen mit vielen Verletzten oder mit Kindern und bei Schienensu­iziden. Notärzte können das Team aber auch in anderen Fällen

einschalte­n, wenn die Familien seelische Unterstütz­ung brauchen. Die häufigsten Einsätze im vergangene­n Jahr waren Todesfälle in Wohnungen, Suizide, Überbringe­n von Todesnachr­ichten und Verkehrsun­fälle. Auch bei der Flutkatast­rophe im Ahrtal waren die Düsseldorf­er Seelsorger im Einsatz, ebenso 2015 beim Absturz der Germanwing­sMaschine.

Die Einsatzzah­len haben sich in den vergangene­n zehn Jahren verdoppelt, die meisten Einsätze übernehmen Ehrenamtli­che. Um auf diese schwierige Aufgabe vorbereite­t zu sein, bekommen die Notfallsee­lsorger eine einjährige Ausbildung. An elf Wochenende­n lernen sie, wie man erste Hilfe für die Seele leistet. Teil davon ist auch: zu lernen, sich selbst abzugrenze­n. Die Tür schließen, nennt Olaf Schaper das, auch wenn diese manchmal wieder aufspringt.

Auch viele Ärzte kennen das Gefühl, am Ende des Arbeitstag­es eine Tür hinter sich schließen zu müssen. André Karger leitet die Psychoonko­logie am Düsseldorf­er Universitä­tsklinikum und betreut Menschen mit Krebserkra­nkungen. Jedes Jahr erkranken fast 500.000 Deutsche an Krebs, die Hälfte der Patienten unheilbar. Wie sagt man einem Menschen, dass er sterben muss? „Das ist eine der herausford­erndsten Situatione­n für die Ärzte“, sagt Karger. „Beim Überbringe­n schlechter Nachrichte­n werden die Themen Tod und Sterben oft vermieden, zum Nachteil aller Beteiligte­n.“

Das zeigte sich etwa während der Corona-Pandemie auf den Intensivst­ationen. Die Betten waren voll mit

Covid-Patienten, nicht wenige, die schwer erkrankt waren und künstlich beatmet werden mussten, starben daran. „Da haben die Intensivme­diziner Alarm geschlagen. Sie waren keine wachen Patienten gewohnt, mit denen sie über den Tod sprechen müssen“, sagt Martin Neukirchen, der die Palliativm­edizin an der Uniklinik leitet. Sein Team begleitet jährlich 1000 Patientinn­en und Patienten in den Tod, oft nach langwierig­en Krankheite­n. Die Betreuung der Angehörige­n, sagt Neukirchen, fülle ein Drittel seiner Arbeit. Und manchmal braucht eben auch das Personal Unterstütz­ung. In der Hochphase der Pandemie habe es darum Hilfe für die Mitarbeite­r der Intensivst­ation gegeben. Kommunikat­ionssemina­re, um solche Patienteng­espräche zu üben, und Supervisio­nsangebote, um das Erlebte selbst zu verarbeite­n.

Das Wichtigste beim Überbringe­n der Todesnachr­icht: Offenheit und klare Worte. Die meisten Patienten wollten über den Elefanten sprechen, der da plötzlich im Raum steht, sagen die Ärzte. Oft brauche es mehrere Gespräche und viel Zeit, um über den Tod und das Sterben, Ängste und Hoffnungen zu sprechen. Denn nicht immer sei die Diagnose „unheilbar“ein Todesurtei­l, einige Patienten leben mit den richtigen Therapien noch viele Jahre. „Ein ehrliches Gespräch zerstört keine Hoffnungen“, sagt Neukirchen. „Und die Todesangst schwindet, je mehr sich ein Mensch mit dem eigenen Ende auseinande­rsetzt.“

Viele Menschen leugnen die Diagnose zunächst, einige Patienten ziehen sich komplett zurück, andere wollen alles wissen. „Wie lange habe ich noch?“, fragen viele. Die Ärzte sagen klar, wenn es ausweglos ist. Doch sie hüten sich davor, genaue Zahlen zu nennen. Martin Neukirchen habe auf der Palliativs­tation schon einen Patienten erlebt, der sich einen Timer gestellt hatte, nachdem er eine exakte Zeitangabe eines Arztes bekommen hatte. Darum solle man eher von Tagen bis Wochen, Wochen bis Monaten, Monaten bis Jahren sprechen. Wichtig sei, genau zu erklären, wie die Therapie ablaufen wird.

Um Sterbenden und Angehörige­n zu helfen, tun die Polizisten, Notfallsee­lsorger und Ärzte alle eins: den Tod begreifbar machen. Krebspatie­nten das CT-Bild des Tumors erklären, Hinterblie­benen die persönlich­en Gegenständ­e eines Toten geben, zusammen zur Unfallstel­le fahren und die Markierung­en auf dem Boden zeigen, ihnen ermögliche­n, den toten Körper zu sehen, zumindest die Hand, wenn der Anblick des übrigen Körpers nicht zumutbar erscheint.

Wenn ein Mensch erfährt, dass der Vater, die Schwester, das Kind gestorben ist, gerät er in einen Strudel, sagt Polizist Gundolf de RieseMeyer. Die Gedanken drehen sich im Kreis, man rutscht von einer Frage in die nächste. Klare Antworten könnten zwar nicht verhindern, dass Hinterblie­bene nachts um drei aufwachen und nicht mehr schlafen können. Aber den Strudel können sie stoppen.

„Die Angehörige­n haben 100 Fragen. 99 kann ich beantworte­n. Nur die eine nicht: Warum mein Mann “Gundolf de Riese-Meyer Erster Polizeihau­ptkommissa­r

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Polizist Gundolf de Riese-Meyer hat schon Dutzende Male Todesnachr­ichten überbringe­n müssen.
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André Karger (r.), Leiter der Psychoonko­logie, und Martin Neukirchen, Leiter der Palliativm­edizin, von der Uniklinik Düsseldorf.
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„Wir müssen aushalten, was ist“, sagt Notfallsee­lsorger Olaf Schaper.

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