Wie Deutschland wieder Erfolg haben könnte
INFO Unregelmäßigkeiten bei Jury-Wertung
Der letzte Platz von Malik Harris beim Eurovision Song Contest in Turin reiht sich ein in eine lange Serie von Niederlagen. Was die Gründe für das schlechte Abschneiden sind und warum es nun Mut und einen neuen Stefan Raab braucht.
Die Hoffnung von Malik Harris endet in Turin in der Nacht zum Sonntag gegen 0.45 Uhr. Dass sein Beitrag „Rockstars“von den ESC-Jurys null Punkte erhalten hat, weiß er schon eine Weile. Nun sieht er die Wertungen der Fernsehzuschauer. Dort sind es sechs Punkte. Es ist der sichere letzte Platz, noch bevor irgendein anderes Land seine Wertung erhalten hat. Ein weiterer deutscher Misserfolg beim Eurovision Song Contest. Einer, der so vorhersehbar war wie der Sieg der Ukraine. Weil der in Deutschland ausrichtende NDR den Wettbewerb bis heute nicht verstanden hat.
Die jüngere deutsche ESC-Geschichte ist eine Schreckensbilanz wie sie kein anderes Teilnehmerland vorweist. Von den jüngsten sieben Beiträgen landeten sechs auf dem letzten oder vorletzten Platz und kamen dabei in Summe auf 50 Punkte, was in diesem Jahr nicht einmal für ein Ergebnis unter den ersten 20 gereicht hätte.
Jahr für Jahr versprüht die deutsche Delegation Zweckoptimismus und wirbt für Musiker, von denen sie meist weiß, dass sie auch dieses Mal nichts reißen werden. Wenn es soweit ist, beklagen die einen, dass das schöne Lied und der sympathische Künstler in Europa nicht verstanden wurden. Die anderen fabulieren darüber, dass Deutschland zu unbeliebt sei und deshalb immer verliere. Beides ist Quatsch. Zur Wahrheit gehört ein wenig der deutsche Musikgeschmack, vor allem aber eine unvergleichbare Mutlosigkeit in der Vorauswahl. Was selten so deutlich wurde, wie in diesem Jahr.
Denn dass Malik Harris mit „Rockstars“für Deutschland zum ESC gefahren ist, war eine richtige Entscheidung der deutschen Zuschauer. Der 24-Jährige war tatsächlich der beste von sechs Startern in einer peinlichen Vorentscheidung. Nach monatelangen Castings präsentierte der NDR eine Künstlerauswahl, die musikalisch so dünn wie gleichklingend war, dass man sich ernsthaft fragen musste, wie die übrigen 938 Lieder klangen, mit denen sich Musiker ebenfalls beworben hatten. Zum Glück für den Glauben an die deutsche Musik und zum Pech für den NDR wurden einige der übrigen Bewerbungen bekannt. Eine von ihnen kam so gut an, dass Deutschland in den Wettquoten zeitweise nur deshalb unter den ersten zehn lag.
Die Metalcore-Band Eskimo Callboy (heute: Electric Callboy) hatte sich gleich mit zwei Titeln beworben. Die bunt-verrückten Videos dazu wurden auf Youtube millionenfach geklickt, erstmals seit dem
Sieg von Lena im Jahr 2010 entstand ein kleiner Hype um den deutschen Beitrag. Doch was tat der NDR? Er organisierte die Vorauswahl unter Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Pop-Radiosender. Und da sie die Vorentscheidungsteilnehmer dort auch spielen sollten, wählten die aus, was im Radio nicht wehtut: belanglosen Pop. Electric Callboy durften sich nicht dem Publikum präsentieren, daran änderte auch eine Petition mit 130.000 (!) Unterschriften nichts.
Es ist (hoffentlich) nicht so, dass es im deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk niemanden mit Ahnung von Musik gibt. Nur sind diejenigen, die beim NDR über den deutschen Beitrag entscheiden, offenbar vollkommen beratungsresistent. Anders lässt sich die Hartnäckigkeit, mit der Deutschland jeden Musiktrend verpasst, nicht erklären.
Es ist auch nicht so, dass Deutschland in den vergangenen 25 Jahren niemals einen erfolgreichen Titel zum ESC geschickt hätte. Zumindest sieben Mal reichte es in dieser Zeit für eine Top-Ten-Platzierung. 2018 hatten die Verantwortlichen Glück, als sich mit Michael Schulte zwar auch ein Standard-Popsänger bewarb, dessen Ausstrahlung und dessen Song „You Let Me Walk Alone“aber so stark waren, dass es zu einem herausragenden vierten Platz reichte. Die übrigen guten Ergebnisse stammen allerdings entweder aus einer Zeit, in der der klassisch deutsche Schlager noch halbwegs erfolgreich war (1999, 2001) oder sind allesamt dadurch entstanden, dass Stefan Raab als Komponist, Interpret oder Produzent am ESC beteiligt war.
Raab war damals das notwendige Korrektiv, um den NDR davon zu überzeugen, sich vom Schlagermuff vergangener Jahre zu befreien. Heute braucht es wieder jemanden, der die Verantwortlichen von ihrem Weg des austauschbaren Pop abbringt. Denn beim ESC kommt es weniger denn je auf die Musikrichtung an. Was zählt, sind ein besonderer Künstler, ein besonderer Titel und eine besondere Inszenierung. Die Rockband Maneskin (ESC-Sieger
Abstimmung Die Europäische Rundfunkunion hat als ESC-Veranstalter in Turin Unregelmäßigkeiten bei der Jury-Abstimmung im zweiten Halbfinale bemerkt.
Folgen Die Wertungen aus Aserbaidschan, Georgien, Montenegro, Polen, Rumänien und San Marino wurden durch ein automatisch berechnetes Ergebnis ersetzt. Die Länder sollen sich Punkte zugeschoben haben. dpa
2021) wäre in der aktuellen Vorauswahl des NDR allerdings wahrscheinlich ebenso gescheitert wie die diesjährigen Sieger des Kalush Orchestra. Ethno-Hip-Hop ist schließlich nicht Popradio-tauglich.
In einer Niederlage liegt allerdings immer auch eine Chance. Der NDR hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Die deutsche ESC-Reputation ist bereits gleich null. Was spricht also dagegen, wirklich einmal Vielfalt zu wagen? Einen Vorentscheid mit vielen verschiedenen Musikrichtungen. Einen Auswahlprozess, der das Besondere und nicht das Harmlose sucht. Und wenn es damit dann nur zum drittletzten Platz reicht, wäre das im Vergleich doch schon ein Erfolg.