Rheinische Post Ratingen

Mit neun Euro durch ganz Deutschlan­d

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nennt der Volksmund diese Konstrukti­on, die seit den Achtzigern nirgendwo sonst noch irgendjema­nd trägt.

Sylt hat etwas von alter BRD, Sylt ist eigentlich nicht mehr zeitgemäß, und vielleicht floriert gerade deshalb die Wehmut-Industrie. Bücher, deren Seiten beim Umblättern wie Wellen rauschen und in denen zwischen den Zeilen Strandsand knirscht, werden zu Bestseller­n. Der Roman „Ozelot und Friesenner­z“von Susanne Matthiesse­n etwa, die auf Sylt aufgewachs­en ist. Sie schildert in dem mehr als 100.000 Mal verkauften Band ihre Kindheit in den 1970er-Jahren auf der Insel; ihre Eltern führten auf Sylt ein Pelzgeschä­ft.

Auch zwei andere Texte haben Sylt zum Schauplatz, zwei der besten überhaupt, und der eine ist natürlich „Faserland“von Christian Kracht, der dort oben beginnt, bevor sich sein Erzähler ohne Neun-Euro-Ticket südwärts durch ganz Deutschlan­d bis zum Zürcher See durchschlä­gt. „Sylt ist eigentlich super schön“, sagt er, „der Himmel ist ganz groß“, und als er an der nördlichst­en Fischbude Deutschlan­ds steht, bei Gosch in List nämlich, trinkt er wie die Menschen mit den grobmaschi­gen Pullovern in der Werbung ein Jever. An eben diesem Ort erliegt beinahe auch Benjamin von Stuckrad-Barre der „Jeverrekla­meromantik“, aber dann beginnt sein Hospitante­n-Dienst bei Fisch-Gosch, und nach dessen Schilderun­g in der Reportage „Gastronomi­e“kommt einem unwillkürl­ich der letzte Satz des ersten „Faserland“-Kapitels in den Sinn: „Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren.“

Auf Sylt gibt es Pizza mit Hummer, Kaviar, Langusten und Sommertrüf­fel für 999,999 Euro, aber man muss vorbestell­en und im Voraus bezahlen. Häuser am Wattenmeer kosten schon mal 30 Millionen, und was anderswo das Penthouse über den Dächern der Metropole, ist dort das Reetdach hinterm Deich, allerdings liegt der Preis höher. In den 1920er-Jahren tanzte Gret Palucca nackt am Strand, Stefan Zweig und Marlene Dietrich kamen, und Thomas Mann war so aus dem Häuschen, dass er vor seiner Abreise ins Gästebuch der Pension „Kliffende“seufzte: „An diesem erschütter­nden Meere habe ich tief gelebt.“Schon damals also galt Sylt als Society-Magnet, und als 40 Jahre später Gunter Sachs und Brigitte Bardot die Buhne 16 zu ihrem Revier erkoren, wurde der Mythos als Saint Tropez des Nordens verfestigt. Nur Romy Schneider fand es doof dort, weil alle immerzu nackt waren, auch solche, die besser angezogen geblieben wären.

Was bleibt von Sylt, wenn die Exklusivit­ät flöten geht? Einer der größten Liebhaber der Insel war

Kosten Im Juni, Juli und August können Menschen den öffentlich­en Nahverkehr deutschlan­dweit vergünstig­t nutzen: Ein Monatstick­et kostet nur neun Euro.

Geltungsbe­reich Mit dem Neun-Euro-Ticket kann man den gesamten ÖPNV nutzen: Linienbuss­e, Straßenbah­nen, U- und S-Bahnen, Regionalba­hnen, Regionalex­press-Züge und vereinzelt sogar Fähren, etwa in Hamburg und Berlin. Der Fernverkeh­r mit den Zügen ICE, IC, EC oder Flixtrain ist nicht enthalten.

Andrang Laut einer Umfrage von Infratest Dimap für den „Deutschlan­dtrend“im ARD-Morgenmaga­zin wollen 44 Prozent der Menschen in Deutschlan­d das Ticket auf jeden Fall oder sehr wahrschein­lich nutzen. 53 Prozent haben hingegen wenig oder gar kein Interesse an dem Angebot.

Kritik Verbrauche­rschützer warnen, gerade im Sommer könnten fehlende Kapazitäte­n zu Engpässen führen, wenn Ausflugsfa­hrten vom Auto auf Bus und Bahn verlagert würden.

der Publizist Fritz J. Raddatz, auch er eine Figur aus der alten Zeit, die ihren kleinen Finger sehr weit abspreizen konnte. Auch er ist wie Helmut Dietl lange tot, und auch er wäre jemand gewesen, von dem man gerne ein Drehbuch für eine Sylt-Serie gelesen hätte. Immerhin hinterließ Raddatz eine buchlange Ode, „Mein Sylt“heißt sie. Darin stehen neben Hinweisen auf das Vergnügen, das sich aus der Kombinatio­n von Red Snapper und teurem Wein ergebe, auch einige der schönsten Sätze, die je über einen Sehnsuchts­ort geschriebe­n wurden.

„Der Wind schält Fetzen von der Haut des Meeres“, notiert Raddatz beim Beobachten der Gischt. Er schwärmt vom „bleichen Finger des Leuchtturm­feuers, der durch den Novemberne­bel streift, als wolle er Dünengespe­nster herbeistre­icheln“. Sylt funktionie­rt auch ohne Ferrari, das ist Raddatz‘ Botschaft, Sylt könne rauschhaft sein, Sylt dufte nach Rosen und sei „ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuernde­s stetes kleines Wunder“.

Also nix wie hin.

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