Rheinische Post Ratingen

Anleitung zum Glücklichs­ein

Die deutschen Handballer spielen gegen Ungarn wie ausgewechs­elt. Wie ist so ein Wandel möglich? Die Spieler geben klare Antworten.

- VON CHRISTINA RENTMEISTE­R UND GEORG AMEND

Gleicher Ort, die gleichen Gesichter und Namen – und doch mag man kaum glauben, dass da die gleiche Handball-Mannschaft auf dem Feld steht wie nur 48 Stunden zuvor bei dem 22:22 gegen Österreich. Da ein deutsches Team, das an seinen Fehlwürfen verzweifel­t, wenige Ideen im Angriff hat und mit sich hadert. Hängende Schultern und Köpfe, ratlose Gesten – am Ende Enttäuschu­ng über einen Rückschlag bei der Mission Halbfinale der HeimEM. Hier nun eine Mannschaft, die Spielwitz und Freude ausstrahlt, die sich den Gegner zurechtleg­t und fast nach Belieben trifft. Selbstbewu­sst geht jeder voran, im Angriff wie in der Abwehr.

Die Ausstrahlu­ng der Spieler ist eine gänzlich andere. Von den ersten Sekunden des Spiels an ist das zu spüren. Mit Tempo und mächtig Power geht das DHB-Team in das so wichtige Spiel gegen Ungarn. Bei einer Niederlage wäre das Halbfinale nicht mehr erreichbar gewesen. Der Druck war hoch, eine deutliche Leistungss­teigerung musste her. Die liefert die Mannschaft um Kapitän Johannes Golla.

Bei jeder guten Aktion feuern sich die Spieler an, pushen sich auch wenn mal ein Wurf daneben geht. Ob die Rückraumsp­ieler Sebastian Heymann und Jannik Kohlbacher oder Julian Köster und Kai Häfner – die Schützen jubeln offensiv zu und mit den Fans. Taktisch klug, abwehrstar­k und vorne effizient spielt das Team von Bundestrai­ner Alfred Gislason vor allem in der zweiten Hälfte. Am Ende gewinnt Deutschlan­d mit sieben Toren Vorsprung 35:28 und ist nun Zweiter der Hauptrunde­ngruppe I hinter Frankreich.

Aber wie kann sich das Bild binnen eines Tages so stark wandeln? Klar, die Einstellun­g ist ein großer Faktor. „Wir müssen die Köpfe jetzt schnell wieder hochbekomm­en“, hatte Golla nach der Enttäuschu­ng gegen Österreich gesagt. Und prognostiz­iert, dass sie sich aneinander aufrichten und die Fehler klar ansprechen würden. Das alleine werde aber nicht reichen „Wir müssen auch besser Handballsp­ielen“, hatte der Kapitän gefordert.

Beides ist passiert. Und auch deswegen stehen die deutschen Handballer nach der Schlusssir­ene euphorisie­rt und überglückl­ich auf dem Feld und feiern lange mit den Fans in Köln. Auch deswegen ist die Stimmung nach der Partie spürbar ausgelasse­n. Freude, Erleichter­ung, aber vor allem Stolz ist in den Gesichtern zu sehen und in den Aussagen der Spieler zu hören.

„Wir haben viel an- und besprochen, was wir besser machen müssen. Ich bin extrem stolz auf die Mannschaft, nach dem Rückschlag gegen Österreich wieder so ein Spiel zu zeigen“, sagt Golla. Am spielfreie­n Sonntag hatte die Mannschaft die Zeit genutzt, um sich als Team wieder zu finden, sich auszusprec­hen.

Nach einer Abstimmung der Spieler verzichtet­en sie auf das Training in der Halle, analysiert­en dafür die Partie. „Am Sonntag waren wir schon sehr viel im VideoRaum und haben Dinge deutlich angesproch­en – es ging zur Sache. Das war dann ein nicht ganz so schöner Tag. Aber Training wäre auch Quatsch gewesen, ich habe auch dagegen gestimmt – die eine Stunde in der Halle macht dich nicht zu einem besseren Handballer. Es war wichtiger, dass wir zusammensi­tzen und ein paar Dinge ansprechen konnten“, erzählt Routinier Häfner. Und es war offenbar die genau richtige Entscheidu­ng. Die Mannschaft wirkte wieder wie eine Einheit, die gemeinsam Spaß hat und das Heimturnie­r mit der tollen Kulisse in Köln genießen will.

„Harte und ehrliche Worte gehören dazu. Dass man Tatsachen anspricht, die nicht so gut liefen. Damit kann, glaube ich, jeder ganz gut umgehen. Es ist ja nie was Persönlich­es, sondern dient der Mannschaft“, sagt Köster, der gegen Ungarn in Abwehr wie Angriff eine Weltklasse­leistung auf die Platte brachte und „Spieler des Spiels“wurde.

Am Ende der Analysen stand ein klarer Plan für die Partie, wie die Spieler nachher verraten. „Wir waren einfach taktisch extrem reif. Und das ist glaube ich das, was die meisten uns am wenigsten zugetraut haben. Alle haben gedacht, die Deutschen haben ihre Stärken, sie können rennen, sie können kämpfen, aber irgendwann werden sie ihren Kopf verlieren. Aber so war es nicht. Das hat glaube ich auch die Ungarn irritiert, weil sie oft die Mannschaft sind, die das Spiel im Kopf dominiert. Wir haben gezeigt, dass wir Handball auch denken können“, sagt Spielmache­r Juri Knorr. „Egal in welcher Phase, egal in welchem System Ungarn gespielt hat, und vor welche Aufgaben sie uns gestellt haben, wir waren vorbereite­t, hatten einen Plan und konnten den auch umsetzen“, ergänzt der 23-Jährige, der nach den Spielen gegen Island und Österreich für seine Spielweise kritisiert worden war.

Diesmal nahm Knorr eine andere Rolle ein. Hielt sich zunächst sehr zurück, passte mehr auf die Teamkolleg­en, statt selbst zu vollenden. „Mir war es bewusst, dass ich mich vielleicht ein bisschen zurücknehm­en muss, damit das große Ganze funktionie­ren kann“, sagt er. In der ersten Halbzeit habe er extrem wenig gemacht und war damit auch nicht ganz zufrieden. In der zweiten Halbzeit legte er dann direkt mit zwei starken Angriffen los, dirigierte aber auch weiter die Kollegen.

„Es war einfach schön, zu sehen, wie die Dinge dann ineinander­laufen und funktionie­rt haben“, sagt Knorr. „Das war ehrlich gesagt genau das, was wir uns vorgenomme­n haben. Wir haben extrem viel über die Taktik geredet. Wir haben uns viele Dinge vorgenomme­n, gegen verschiede­ne Systeme, die die Ungarn spielen könnten, die auf uns zukommen könnten. Und ich muss einfach mal meine Birne einschalte­n und mehr mit dem Kopf spielen als mit dem Herzen und dem Willen.“Er sei auch stolz auf sich, dass er das hinbekomme­n habe.

Aber nicht nur Knorr zeigte eine neue Seite. Sebastian Heymann zeigte das wohl beste Spiel im Nationaltr­ikot seit Langem. Vier von vier Würfen landeten im Tor. Der Bundestrai­ner hatte ihn vor der Partie noch mal persönlich auf das Spiel eingeschwo­ren.

Was er gesagt hatte? „Dass ich mit Überzeugun­g aufs Tor gehe, dass ich alles reinschmei­ße, was ich habe. Dass ich mir keine Gedanken machen soll, was passiert. Dass ich Feh

„Es hat uns noch mal erinnern lassen, wofür wir das eigentlich machen, warum wir Handball spielen, warum wir hier auflaufen dürfen“Juri Knorr Nationalsp­ieler

ler machen darf bei ihm und dass er vollstes Vertrauen in mich hat und dass ich auch extrem wichtig werden kann“, erzählt der 25-Jährige. Der Trainer sollte recht behalten und sich mal wieder als wahrer Handball-Flüsterer erweisen.

An der Leistungss­teigerung der gesamten Mannschaft hat wohl nicht nur Gislasons taktische Vorbereitu­ng ihren Anteil. Sondern auch seine Ansprache am Spieltag selbst. Die sei sehr emotional gewesen, sagt Christoph Steinert. Noch mal eine andere Art der Ansprache habe der Bundestrai­ner gefunden, findet Knorr. „Das hat uns sehr berührt. Das hat uns noch mal näher zusammenrü­cken lassen“, ist sich der Spieler der Rhein-Neckar Löwen sicher. „Es hat uns noch mal erinnern lassen, wofür wir das eigentlich machen, warum wir Handball spielen, warum wir hier auflaufen dürfen. Wir haben auch für ihn gespielt, aber jeder hat auch für den anderen und sich gespielt.“

Gegen Kroatien wird genau das wieder nötig sein. Denn dann wartet am Mittwochab­end (20.30 Uhr/ARD und Dyn) schon das nächste Endspiel auf die deutschen Handballer. „Da müssen wir noch mal eine Schippe drauflegen“, gibt Heymann die Richtung vor.

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FOTO: TOM WELLER/DPA Aus der Vogelpersp­ektive: Deutschlan­ds Julian Köster (oben) kommt gegen die Ungarn zum Wurf.

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