Rheinische Post Ratingen

Durs Grünbein erzählt vom Schicksal seiner Großmutter

- VON CLAUS CLEMENS

Klappentex­t dieses Buchs nennt ein Wort, das nicht zu diesem Autor passen will: „Bericht“. Hat der Lyriker und Erzähler Durs Grünbein jetzt auch die Reportage als kreatives Arbeitsfel­d für sich entdeckt? Bei der Vorstellun­g von Grünbeins neuem Werk „Der Komet“im Heine-Haus wurde gleich zu Beginn nachgefrag­t. Seine Antwort: „Ja, dieses Buch ist ungewöhnli­ch, weil ich es über viele Jahre nicht schreiben konnte und dann doch.“

Der vollständi­ge Satz im Klappentex­t lautet: „Im Mittelpunk­t dieses Berichts steht eine Frau aus einfachen Verhältnis­sen. (…) Am Beispiel von Dora W. wird erzählt, wie Geschichte den Geschichts­losen widerfährt, zuletzt als Schrecken und zu späte Einsicht.“Der Moderator des Abends, „FAZ“-Redakteur Andreas Platthaus, hatte das hierzu passende Vorgängerb­uch mitgebrach­t. Auch „Die Jahre im Zoo“erschien vor neun Jahren mit einer ungewöhnli­chen Genrenennu­ng: „Ein Kaleidosko­p“. Damals rückte Grünbein das Schicksal seiner Vorfahren väterliche­rseits in den Mittelpunk­t. Jetzt ist es seine Großmutter Dora, aber beide Werke kulminiere­n mit der Zerstörung seiner Geburtssta­dt Dresden.

Mit knapp 16 Jahren verliebt sich das aus Schlesien stammende Mädchen in den Schlachter­gesellen Oskar, folgt ihm nach in die Barockstad­t an der Elbe und wird Mutter. Zusammen mit ihrer Freundin Trude erlebt sie dort unbeschwer­te Jahre, die in den Bombennäch­ten ein abruptes Ende finden.

Durs Grünbein stelle, so hieß es vom Moderator, einer Stadtpersö­nlichkeit die Persönlich­keit einer lebenshung­rigen Frau gegenüber. Hierzu las der Schriftste­ller eine ganze Reihe von kurzen, disparaten Passagen, die er selbst „Splitter“nannte. Über Doras große Liebe heißt es: „Oskar, das war der Mann, dem sie folgen würde, wenn es sein musste, bis nach Amerika.“Und über Dresdens Verhältnis zur Elbe hörte man dies: „Schnell hatte sich die Stadt an den bequemen Flusslauf angepasst.“

Andreas Platthaus zeigte sich tief gerührt von Grünbeins neuem Buch. Es sei zwischen autobiogra­fischer Familienge­schichte, Gesellscha­ftsporträt und Roman angesiedel­t. „Atemberaub­end“nannte er nicht nur die Schilderun­g der Zerstörung Dresdens, sondern auch die Vorgeschic­hte des Angriffs, die die Gesellscha­ft im Nationalso­zialismus aus fast kindlicher Perspektiv­e abbildet.

Und der Titel? Die Großmutter kann ihn selbst nicht erlebt haben, den Halley’schen Kometen, der 1910 am Himmel zu sehen war. Aber damals versetzte er viele Menschen in eine Weltunterg­angspanik, und die junge Dora durchzog bei den mitten im Frieden stattfinde­nden Luftschutz­übungen eine böse Vorahnung von einem Unheil, „das größer war als das tägliche kleine Alltagsleb­en“. Sich selbst und überhaupt die kleinen Leute sah sie als passive Dulder übermächti­ger Verhältnis­se: „Wir sind immer die Dummen gewesen.“

Info Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp, 282 Seiten, 25 Euro.

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