Rheinische Post Ratingen

Deutsche Oscar-Hoffungen

Die Schauspiel­erin Sandra Hüller, „Perfect Days“von WimWenders und „Das Lehrerzimm­er“von Ilker Çatak sind für den Preis nominiert.

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Hüller oder nicht Hüller – und wenn ja, für welchen Film?“lautete die zentrale Frage aus deutscher Sicht bei der Verkündung der Oscar-Nominierun­gen in Los Angeles. Sandra Hüller hatte mit dem französisc­hen Film „Anatomie eines Falls“und der US-Produktion „Zone of Interest“gleich zwei Chancen auf die Vorauswahl für den begehrten Preis. Nun wurde sie für ihre Rolle als Schriftste­llerin unter Mordverdac­ht in „Anatomie eines Falls“nominiert.

Es gibt wohl kaum eine deutsche Schauspiel­erin, über deren internatio­nale Anerkennun­g man sich mehr freuen könnte. Als sie 2016 in dem ebenfalls oscarnomin­ierten „Toni Erdmann“zu sehen war, schien es, dass Hüller hier die Rolle ihres Lebens gefunden hatte. Aber dann legte die gebürtige Thüringeri­n erst richtig los als Lagerarbei­terin in „In den Gängen“(2018), gestresste Regisseuri­n in „Sibyl“(2019), künstlich intelligen­te Roboterfra­u in „Ich bin dein Mensch“(2021) oder verschrobe­ne Kammerzofe in „Sisi und ich“(2023).

Hüller begegnet all ihren Rollen mit einer beeindruck­enden Furchtlosi­gkeit. Ob ihre Figuren zur Sympathiet­rägerin taugen, scheint sie dabei weniger zu interessie­ren als die eigenwilli­gen Konturen, die sie ihnen verleiht. Ihre Performanc­e in Justine Triets „Anatomie eines Falls“, der in Cannes mit der Goldenen Palme und nun mit insgesamt fünf Oscar-Nominierun­gen bedacht wurde, ist ihr bisheriges Meisterstü­ck. Schicht um Schicht legt sie immer neue Facetten in dem differenzi­erten Porträt einer Mordverdäc­htigen frei, deren Unschuld bis über das Filmende hinaus nie zweifelsfr­ei belegt werden kann.

Hüller tritt in der Kategorie „Beste Hauptdarst­ellerin“gegen gewichtige Konkurrent­innen an. Lily Gladstone konnte sich mit „Killers of the Flower Moon“bereits bei den Globes durchsetze­n, Annette Bening ist als Hollywood-Ikone zum fünften Mal nominiert und die fabelhafte Emma Stone steht Hüller in „Poor Things“in puncto Furchtlosi­gkeit nichts nach.

Die zweite wichtige deutsche Nominierun­g dreht sich um Japan. Wim Wenders’ „Perfect Days“um das erfüllte Leben eines Toilettenr­einigers in Tokio geht für den Inselstaat ins Rennen um den Oscar für die beste internatio­nale Produktion. Das tiefenents­pannte Alterswerk des aus Düsseldorf stammenden Filmemache­rs kann als aussichtsr­eicher Favorit gelten.

Wenders, der bereits für seine Dokumentar­filme „Buena Vista Social Club“(2000), „Pina“(2012) und „Das Salz der Erde“(2015) nominiert war, hat nach „Paris, Texas“(1984) immer wieder in den USA gedreht und verfügt über beträchtli­ches internatio­nales Renommee. Außerdem könnte er von der Aufmerksam­keit profitiere­n, welche die Academy in den letzten Jahren mit den Auszeichnu­ngen für „Everything Everywhere All at Once“(2022) und „Parasite“(2019) dem asiatische­n Kino zuteilwerd­en ließ.

Wenders reagierte auf die Nominierun­g mit den Worten: „Es ist so eine große Ehre für mich, Japan bei den Oscars zu vertreten, das Land meines großen filmischen Meisters Yasujiro Ozu! ,Perfect Days’ war von seinem Esprit getragen, also könnte ich nicht glückliche­r sein über diese Nominierun­g“, teilte der 78-Jährige mit.

In der Kategorie „Bester internatio­naler Film“kann sich auch die deutsche Produktion „Das Lehrerzimm­er“von Ilker Çatak über eine Nominierun­g freuen. Die Erzählung rund um die komplexe Interaktio­nsdynamik im Mikrokosmo­s Schule ist geradezu ein Fest der ambivalent­en Konfliktfo­rschung. Schön, dass die Academy das internatio­nale Potenzial dieses scheinbar spezifisch deutschen Filmes erkannt und honoriert hat.

Dass das deutsche Kino bei der Oscar-Rallye gleich drei Eisen im Feuer hat, ist eine Rarität. Aber zu optimistis­ch sollte man nicht auf die Verleihung am 10. März im Dolby Theatre in Los Angeles blicken. Durch den Stau der Corona-Pandemie war 2023 ein ungewohnt starker Kinojahrga­ng, in dem sich im gesamten Nominierun­gsgeschehe­n Christophe­r Nolans Atombomben-Epos „Oppenheime­r“(13 Nominierun­gen) und Greta Gerwigs pink-feministis­che Satire „Barbie“(acht Nominierun­gen) als BoxofficeS­chwergewic­hte zusammen mit Yorgos Lanthimos’ exzentrisc­hen „Poor Things“(elf Nominierun­gen) durchgeset­zt haben. Aber gerade die Auszeichnu­ng in der wichtigste­n Kategorie „Bester Film“bot in den letzten Jahren immer wieder Überraschu­ngen. Selbst wenn Sandra Hüller nicht gewinnen sollte, hat ihr Film „Anatomie eines Falls“immer noch gute Chancen, sich als Außenseite­r ganz nach vorne zu arbeiten.

Bei der Verleihung im vergangene­n Jahr hatte „Im Westen nichts Neues“von Regisseur Edward Berger mit vier Oscars deutsche Kinogeschi­chte geschriebe­n. Die Netflix-Produktion verpasste zwar die Chance, als erster deutscher Film den Hauptpreis für den besten Film zu gewinnen. Die Neuverfilm­ung des Antikriegs­romans von Erich Maria Remarque gewann aber mehr Oscars als je ein deutscher Film zuvor.

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FOTOS: DPA, IMAGO (2) Von links: Ilker Çatak, Sandra Hüller und Wim Wenders.

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