Rheinische Post Ratingen

Die Mär vom aufgebläht­en Sozialstaa­t

Hilfsleist­ungen in Deutschlan­d fallen zu üppig aus – so lautet ein häufig geäußerter Vorwurf. Zahlen zeigen, dass das so pauschal nicht stimmt. Dringenden Reformbeda­rf gebe es trotzdem, sagen Ökonomen.

- VON DAVID GRZESCHIK

Der deutsche Sozialstaa­t platzt aus allen Nähten, die Politik gibt immer mehr Geld für Sozialleis­tungen aus: Sätze wie diese fallen nicht nur an Stammtisch­en, sondern auch in Expertendi­skussionen. Tatsächlic­h haben die Sozialausg­aben in Deutschlan­d immer neue Höhen erreicht, 2022 zum Beispiel knapp 1,18 Billionen Euro. Das wissen auch die Ökonomen Sebastian Dullien und Katja Rietzler. Sie arbeiten für das gewerkscha­ftsnahe

Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung der Hans-BöcklerSti­ftung. Trotzdem kommen sie zu einem Schluss, der auf den ersten Blick überrasche­n mag: Sie sagen, dass es sich beim ständigen Wachstum des Sozialstaa­ts um eine Mär handle – eine oft erzählte Geschichte, die aber falsch ist. Wie das?

Zunächst einmal argumentie­ren Dullien und Rietzler, dass neue Rekordausg­aben in nominalen Zahlen ausgedrück­t noch nicht sehr aussagekrä­ftig sind. Weil Preise und Gehälter überall steigen, wachsen auch die Staatsausg­aben. Für seriöse Vergleiche zählt nur das preisberei­nigte Wachstum.

In ihrer Untersuchu­ng schauen sich Dullien und Rietzler schließlic­h die deutschen Sozialausg­aben im internatio­nalen Vergleich an. Das Ergebnis: Während die deutschen Sozialausg­aben von 2002 bis 2022 um 26 Prozent gewachsen sind, fiel der Anstieg in den meisten untersucht­en Ländern sehr viel höher aus – in Frankreich um 35 Prozent, in der Schweiz um 64 Prozent. Luxemburg, Polen und Irland liegen sogar bei einem Plus von über 100 Prozent. Auch das Mutterland des Kapitalism­us, die USA, verzeichne­t einen deutlich stärkeren Anstieg als die Bundesrepu­blik.

In einem zweiten Schritt vergleiche­n die Ökonomen, wie hoch der Anteil staatliche­r Sozialausg­aben am Bruttoinla­ndsprodukt ist. Schließlic­h könnte es sein, dass die Sozialausg­aben in Deutschlan­d nicht mehr so stark gestiegen sind, weil sie vorher schon vergleichs­weise hoch lagen. Hinweise darauf finden sich aber nicht. Vielmehr liegt Deutschlan­d mit staatliche­n Ausgaben von 26,7 Prozent der Wirtschaft­sleistung unauffälli­g im Mittelfeld. In Dänemark (26,2) und Schweden (23,7) fällt der Anteil nur unwesentli­ch geringer aus, in Frankreich (31,6) und Italien (30,1) liegen die Zahlen höher.

Die USA, die Niederland­e und die Schweiz geben zwar weniger als 20 Prozent für Soziales aus. Allerdings ändert sich das, wenn man nicht nur die staatliche­n Sozialausg­aben, sondern auch die privaten betrachtet. Darunter fallen in einigen Ländern verpflicht­ende Ausgaben für die private Krankenver­sicherung. Dabei mache es gesamtwirt­schaftlich keinen Unterschie­d, ob jemand gesetzlich oder verpflicht­end privat versichert ist, argumentie­ren die Autoren. Betrachtet man also die gesamten Sozialausg­aben, liegen die Niederland­e und die USA ungefähr gleichauf mit Deutschlan­d. Auch der Abstand zur Schweiz fällt dann kleiner aus. Was folgt aus diesen Erkenntnis­sen nun für Deutschlan­d?

Führende Ökonomen zeigen sich jedenfalls nicht überrascht. „Üblicherwe­ise steht Deutschlan­d bei diesen gesamtstaa­tlichen Quoten im Mittelfeld und nicht an der Spitze“, sagt der „Wirtschaft­sweise“und Professor für Sozioökono­mie an der Universitä­t Duisburg-Essen, Achim Truger, unserer Redaktion. Zugleich mahnt er, dass für die Politik daraus noch keine unmittelba­ren Schlüsse zu ziehen sind. Der Düsseldorf­er Ökonom Jens Südekum sieht das ähnlich. Er sagt: „Die Untersuchu­ng dient nicht dazu, wirtschaft­spolitisch­e Empfehlung­en abzuleiten.“Reformbeda­rf im deutschen Sozialstaa­t gebe es zuhauf: „Der demografis­che Wandel setzt jetzt erst richtig ein, und bis 2030 wird der Fachkräfte­mangel dramatisch zunehmen.“Darauf müsse unter anderem im Rentensyst­em reagiert werden.

Noch kritischer blickt Ifo-Präsident Clemens Fuest auf die Ergebnisse. Er weist darauf hin, dass die Arbeitslos­igkeit binnen 20 Jahren deutlich gefallen ist – ohne dass sich das bei den Sozialausg­aben bemerkbar machte. „Bei unveränder­ten Regeln im Sozialstaa­t sollten die Sozialausg­aben dann ebenfalls sinken. Das tun sie aber nicht“, sagt er. Verantwort­lich dafür seien steigende Gesundheit­sausgaben. Angesichts des demografis­chen Wandels vermisst

Fuest in dem Papier den Blick in die Zukunft: „Die Alterung wird den Druck zu mehr Sozialausg­aben weiter steigern, gleichzeit­ig sinken die Einnahmen des Sozialstaa­ts, weil immer weniger Menschen erwerbstät­ig sind.“Außerdem müsse mehr Geld für Verteidigu­ng und Dekarbonis­ierung ausgegeben werden.

Noch weiter geht Lars Feld. Er war von 2011 bis 2021 einer der fünf „Wirtschaft­sweisen“, mittlerwei­le ist er Berater von Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP). Er warnt vor einem weiteren Ausbau des Sozialstaa­ts – schon jetzt machten entspreche­nde Ausgaben rund die Hälfte des Bundeshaus­halts aus. „Soll eine allmählich­e Strukturve­ränderung hin zu höheren Verteidigu­ngsausgabe­n führen, muss der Anteil der Sozialausg­aben allmählich sinken“, sagt Feld. Das bedeute, dass die Sozialausg­aben zumindest schwächer steigen müssten als die Wirtschaft­sleistung. Angesichts der Demografie und verfassung­srechtlich­er Restriktio­nen wie das Existenzmi­nimum sei das aber nicht einfach. Feld fordert: „Eine solide Finanzpoli­tik verbietet Sozialausg­aben auf Pump gerade angesichts der Dynamik, die sich aus der Demografie ergibt.“

Was bleibt bei aller Kritik also von der Untersuchu­ng? Jens Südekum lobt die Analyse von Dullien und Rietzler trotzdem. Sie stelle die „hitzige Diskussion rund um den Sozialstaa­t auf eine sichere Faktenbasi­s“, sagt er. Und sie räume mit dem Mythos auf, dass der deutsche Sozialstaa­t ein „überborden­des und ständig wachsendes Monstrum“sei. Dennoch: Dullien und Rietzler schauen mit ihrer Erhebung in die Vergangenh­eit und nicht in die Zukunft. Richtig dürfte daher zweierlei sein: zum einen, dass sich die Sozialleis­tungen in Deutschlan­d gegenwärti­g im Rahmen bewegen. Zum anderen aber auch, dass dieser Umstand die Politik nicht davon abbringen darf, notwendige Reformen voranzutre­iben. Die alternde Bevölkerun­g wird die Sozialsyst­eme in den kommenden Jahren vor viele Herausford­erungen stellen.

„Die Alterung wird den Druck zu mehr Sozialausg­aben steigern“Clemens Fuest Ifo-Institut

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KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN

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