Dicht am Wahnsinn
Andreas Kriegenburg inszeniert am Düsseldorfer Schauspielhaus „Die Unverheiratete“, ein eigenwilliges Stück des österreichischen Dramatikers Ewald Palmetshofer. Man kann die Aufführung großartig finden – falls man sie versteht.
In Ewald Palmetshofers Theaterstück „Die Unverheiratete“betreten ausschließlich Frauen die Bühne. Es sind die Junge (30), die Mittlere (50), die Alte (90) und vier Schwestern (die Hundsmäuligen). Welche Rollen sie spielen, bleibt lange im Dunklen. Wer aber vorab das Programmheft gelesen hat, ist klar im Vorteil.
Die drei erstgenannten Frauen sind Enkelin, Mutter und Großmutter, die namenlosen Schwestern lassen an Erinnyen-Figuren aus der Antike denken, Rachegöttinnen und Personifizierungen des schlechten Gewissens. Sie alle bewegen sich in einem Gefängnis aus hohen senkrechten Latten, das vorübergehend zum Krankenhaus wird, und sprechen ausnahmslos in Jamben, jenem Versmaß, in dem unbetonte und betonte Silben einander abwechseln. Das klingt wie ein antiker Chor und weist „Die Unverheiratete“trotz gelegentlicher humoristischer Einsprengsel als Tragödie des 20. Jahrhunderts aus.
Dies ist das Handlungsgerüst: Im April 1945 denunziert „die Alte“als junge Frau einen Soldaten, der darüber nachdenkt zu desertieren. Er wird standrechtlich erschossen, die Frau nach Kriegsende zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Dabei vergiftet sie drei Frauenleben: ihr eigenes, dasjenige ihrer Tochter und das ihrer Enkelin. Damit legt Palmetshofer den Finger in Wunden, die schon fast verheilt schienen, von denen jedenfalls viele Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus als „aufgearbeitet“betrachten, nichts mehr wissen wollen.
Gegenwart und Vergangenheit überlagern einander in Andreas Kriegenburgs Inszenierung bis zur Undurchschaubarkeit. Die ergibt sich auch daraus, dass die „hundsmäuligen“Schwestern in mehrere Rollen schlüpfen. Stets von selbst erzeugten hohen Tönen begleitet, verkörpern sie Zeugen, Richter und Staatsanwalt im Prozess gegen die Alte. Die findet erst nach Verbüßung ihrer Strafe einen Mann und bekommt mit ihm dann eine Tochter, „Die Junge“.
Die in ihren Details schwer verständliche Handlung eröffnet den Schauspielerinnen famose Gestaltungsräume. Traute Hoess als die Alte, seit dem Tod ihres ungeliebten Ehemanns und schon lange davor „Die Unverheiratete“, setzt auf Gefühlskälte und resolutes Auftreten, das keinerlei Reue erkennen lässt. Pauline Kästner als die burschikose Junge flüchtet sich aus der belastenden familiären Vergangenheit in diverse sexuelle Beziehungen, und Claudia Hübbecker als ihre Mutter, die Mittlere, setzt alles daran, zwischen der unsympathischen, rechthaberischen Großmutter und der nur scheinbar lebenslustigen, in Wahrheit verzweifelten Enkelin ein eigenes Profil zu entfalten. „Ich bin Elektra“, schreit sie ins Publikum.
Im Programmheft erklärt Autor Palmetshofer, was er damit ausdrücken will: das „schmerzliche Fehlen von Zuneigung zwischen Mutter und Tochter“und „das Gegenbild zur Mutter als Fürsorgende, Liebende oder gar als beste Freundin der Tochter“. Im Übrigen, so fügt er an, gipfele die „Orestie“des Aischylos mit ihrem Elektra-Bezug in einer Gerichtsverhandlung, „an deren Schwelle eine frühe demokratische Ordnung errichtet wird, an der Schwelle von Kriegs- und Nachkriegsordnung“.
Am Ende begeht die Alte Selbstmord, und die Junge wird von einem ihrer Liebhaber zusammengeschlagen – eine Tragödie ohne Fallhöhe, die ihre Kritik mitunter durch kaum sichtbare Stiche äußert. So kann man die Tatsache, dass ausschließlich Frauen die Rollen spielen, als Hieb gegen die patriarchalische Gesellschaft verstehen.
Autor und Regisseur lassen vieles unklar, manches ist dicht am Wahnsinn. Man mag das als Herausforderung empfinden, man kann aber davor auch kapitulieren. Das Premierenpublikum blieb zweieinviertel Stunden ohne Pause auf den Sitzen und dankte dann den Schauspielern ausgiebig, aber nicht überschwänglich für ihre Leistungen.