Teuflische Medizin
Sein neunter Fall führt Oberkommissar Leo Wechsler ins Ärzte-Milieu. Die Mönchengladbacher Krimi-Autorin Susanne Goga fängt nicht nur die Atmosphäre im Berlin der 20er-Jahre ein, sondern sie wagt sich auch an ein Tabu.
Wir schreiben das Jahr 1929. An einem Teich in BerlinTempelhof wird an einem eisigen Februarabend ein Mann erschlagen. Kein aufsehenerregender Mord, aber ein vertrackter. Das Opfer ist ein Arzt, gut situiert, alleinstehend. Der Tatort – Blanke Hölle genannt – ist sagenumwoben: Einst soll die germanische Totengöttin Hel dort ihre Opfer gefordert haben. Oberkommissar Leo Wechsler übernimmt den Fall, seinen neunten in der Krimi-Reihe der Mönchengladbacher Autorin Susanne Goga.
Inspiriert wurde die Autorin zu der Geschichte tatsächlich durch die real existierende Blanke Hölle. „Ich habe mir irgendwann die Frage gestellt, ob es in Berlin wohl auch Legenden gibt, sagenumwobene Orte, die ich eher mit Gegenden wie dem Oberen Mittelrhein oder wilden Gebirgslandschaften assoziiere. Dadurch bin ich auf die Blanke Hölle in Tempelhof gekommen. Zusammen mit Schauplätzen wie der Spukvilla war dann die Grundidee für den Ort geboren“, sagt Susanne Goga.
Mit „Der Teufel von Tempelhof“legt die Autorin einen thematisch besonderen Kriminalroman vor. In ihm geht es um umstrittene Heilmittel wie Ephedrin und den chinesischen Ma-Huang-Tee, aber auch um die historische Praxis weiblicher Genitalverstümmelung in den westlichen Ländern um 1900. Diese Information habe sie schockiert, aber nicht überrascht, schreibt sie im Nachwort. „Ich selbst hatte bis vor Kurzem auch nicht davon gehört. Meist stehen jene mehr als 30 Länder im Fokus, in denen solche Praktiken heute leider noch zum Alltag gehören“, sagt Goga.
Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung in Europa und den USA gab es im 19. Jahrhundert, so Goga. Anders als in außereuropäischen Kulturen habe in den westlichen Kulturen ein „geschlechtsbedingtes Machtgefälle“geherrscht.
Der Eingriff sei in der Regel nicht von Frauen, sondern von Männern verordnet und durchgeführt worden. Er sei mit einer vermeintlichen psychischen Erkrankung begründet worden, bei der es jedoch oft um das unangepasste Verhalten junger Frauen ging.
Die Recherche sei schwierig gewesen. Die wenigen Werke, die sich mit dem Thema befassen, hat Goga in einer Bibliografie ihrem Roman beigefügt. „Ich finde, das Thema hat mehr Sichtbarkeit verdient“, sagt die Schriftstellerin. Von Verlag und Lesepublikum habe sie bestärkende und betroffene Reaktionen für das
Thema erfahren. „Heikel war eher, meine männlichen Kriminalbeamten mit einem Thema umgehen zu lassen, das auch heute noch Berührungsängste wecken kann“, sagt Goga. „Mir lag viel daran, dies angemessen darzustellen und auch ihre Unsicherheit zu betonen.“
Gleich in mehrfacher Hinsicht spielen medizinische Praktiken aus den 20er-Jahren in die Ermittlungen von Leo Wechslers Team hinein. Was etwa hatte das Mordopfer den abnehmwilligen Damen aus der feinen Gesellschaft verschrieben? Wie kam es zu Todesfällen im Patientenkreis? Oder spielen doch germanische Riten für die Tat eine Rolle?
Über die Entdeckung des Ma-Huang-Tees für den Roman freut sich die Autorin. „Ich habe inzwischen einiges an Literatur über Gifte zusammengetragen, aber von Ma-Huang hatte ich noch nie gehört. Ich freue mich immer, wenn ich Elemente in die Geschichte einbauen kann, die nicht weithin bekannt sind“, sagt Goga. Und auch beim Ephedrin hat sie auf die historisch korrekte Betrachtung des heute umstrittenen Medikaments geachtet.
Wie in allen LeoWechsler-Krimis entfaltet sich im „Teufel von Tempelhof“in und um die Polizeiarbeit ein Sittengemälde des Berlins der 20er-Jahre. Geschickt schachtelt sie die Ermittlungsarbeit und das Privatleben der Hauptpersonen ineinander. Da ist Leo Wechsler mit seiner Frau, die in die SPD eingetreten ist. Da ist ein homosexueller Kriminalbeamter, ein Kollege Wechslers, dessen Verhältnis mit einem schwarzen Jazzmusiker nicht öffentlich werden darf. Da ist der jüdische Kollege, dessen Frau gerade das zweite Kind erwartet. Die Weimarer Republik wankt. Es gibt rassistische Angriffe auf offener Straße. 1922 hat Goga ihre Krimi-Reihe beginnen lassen. Einen Endpunkt hat sie sich nicht gesetzt. „Es sind noch knapp vier Jahre bis zum Januar 1933. Da gibt es viel zu erzählen. Die letzten Jahre der Weimarer Republik sind ein schwieriger, oft bedrückender, aber auch lohnender Hintergrund. Kurz gesagt, solange ich Ideen habe und Menschen die Romane lesen, werden Leo, seine Familie und sein Team lebendig bleiben.“