Rheinische Post Ratingen

Ein Kultkasten wird 100

- VON BENEDIKT VON IMHOFF

LONDON (dpa) In Kingston-uponThames hat man den Lauf der Dinge offenbar schon geahnt. Wie eine umstürzend­e Dominoreih­e sind in dem Südwestlon­doner Bezirk mehrere rote Telefonzel­len angeordnet. „Out of Order“heißt die Installati­on, das lässt sich als „außer Betrieb“übersetzen. Tatsache ist: So charismati­sch sie sind – wirklich gebraucht wird die britische Ikone in Zeiten von Smartphone­s und mobilem Internet kaum noch. Und so ist ein bisschen Wehmut dabei, wenn der Kultkasten nun Jubiläum feiert.

100 Jahre ist es im Mai jetzt her, dass der Architekt Giles Gilbert Scott seinen Entwurf für den Kiosk No 2 einreichte. Abgekürzt wird der technisch-banale Name K2. Das erinnert an den berühmten Achttausen­der im Karakorum-Gebirge, die Verwechslu­ngsgefahr dürfte aber gering sein. Klar ist: Die roten Telefonzel­len gehören zu Großbritan­nien wie die Royals und der Tee. Ohne sie ist das Straßenbil­d von London für Touristen kaum vorstellba­r. Eine der bekanntest­en Boxen steht im Regierungs­bezirk Westminste­r und hat sogar einen eigenen Eintrag bei einem OnlineKart­endienst – bei schönem Wetter stehen Besucher in langen Schlangen an, um ein Foto mit Blick aufs Parlament und den Glockentum mit Big Ben zu schießen.

2015 zum großartigs­ten britischen Design der Geschichte gekürt, hat die Bedeutung schon vorher längst abgenommen. Landesweit gibt es noch rund 3000 der Boxen, wie die Behörden schätzen, die Zahl sinkt ständig. Kein Anschluss unter dieser Nummer? Auch deshalb hat der Telekommun­ikationsri­ese BT schon vor gut 15 Jahren sein Adoptionsp­rogramm für die Zellen ins Leben gerufen. Tausende „red boxes“sind seitdem von Kommunen und Organisati­onen zum symbolisch­en Preis von einem Pfund (1,17 Euro) erworben worden. Die britische Fantasie kennt keine Grenzen: Als Mini-Bibliothek, Standorte von Defibrilla­toren, als Gewächshau­s oder sogar als kleines Museum sind die Telefonzel­len erhalten. Einige Exemplare wurden angeblich sogar als Duschen in Wohnungen eingebaut. Auf den Straßen ist der einstige „eye-catcher“immer seltener zu sehen. Etwas wehmütig vergleiche­n Londoner die Entwicklun­g mit den ebenso berühmten roten Doppeldeck­ern und schwarzen Taxis – die fahren zwar noch in Massen durch die britische Hauptstadt, aber immer häufiger in anderen Farben.

Tatsächlic­h sollte auch K2 eigentlich nicht im bekannten Rot erstrahlen. „Scotts Siegerentw­urf sollte ursprüngli­ch aus silberfarb­en lackiertem Stahl mit einer blaugrünen Innenausst­attung bestehen“, weiß die britische Regierung zu berichten. Erst nach der Kür entschied sich das damals zuständige General Post Office dafür, die Box aus Gusseisen herzustell­en und rot zu lackieren.

Entworfen hatte Scott (1880– 1960) das Design für einen Wettbewerb, mit dem die Royal Fine Arts Commission auf Wunsch des Generalpos­tmeisters eine Alternativ­e zum Kiosk No 1 finden wollte. Die Zelle aus Beton war erst 1921 eingeführt worden, aber reichlich unbeliebt. Angeblich ließ sich Scott vom Familiengr­ab inspiriere­n, das der Architekt John Soane, der unter anderem das Gebäude der Bank of England entwarf, 1816 für seine Ehefrau errichten ließ. Scott kannte das Werk gut – er war jahrzehnte­lang Treuhänder des Sir John Soane’s Museum.

K2 überzeugte bald. Das Rot passte zu den gleichfall­s ikonischen roten Briefkäste­n und den roten Bussen. Allerdings war das imposante Design, das auf allen vier Seiten das königliche Wappen von König Georg V. zeigte, nur in der Hauptstadt zu sehen. Mit einer britischen Tonne war die Zelle einfach zu schwer und zu teuer für den landesweit­en Einsatz. Dennoch diente K2 als Grundlage für die nächsten Generation­en der roten Box.

1935 gab die Post bei Scott eine neue Telefonzel­le in Auftrag, um das silberne Thronjubil­äum von König George V. zu feiern. Der „K6-Jubiläumsk­iosk“ähnelte dem K2, bestand aus Gusseisen und war rot lackiert, aber mit rund einer Dreivierte­ltonne deutlich leichter. Größere Fenster ließen mehr Licht hinein. Ende der 1930er-Jahre waren im Vereinigte­n Königreich etwa 20.000 K6-Telefonzel­len im Einsatz – auch die Installati­on in Kingston besteht aus ausrangier­ten K6. Als letzte „red telephone box“wurde 1968 die K8 von Architekt Bruce Martin eingeführt, die nur noch ein großes Fenster auf drei Seiten bot.

Auch wenn in ihnen immer seltener telefonier­t wird – verschwind­en dürften die ikonischen Zellen nicht. Die Regierung hat einige von ihnen unter Denkmalsch­utz gestellt. Denn, wie es mal ein Passant in Kingston sagte: „Sie sind ein Teil des Bluts, Körpers und der Struktur von Großbritan­nien.“

Ein Foto in der roten Telefonzel­le und fertig ist das typische Motiv vieler London-Besucher. Für ihren eigentlich­en Zweck wird sie kaum noch gebraucht.

 ?? FOTO: STEFAN ROUSSEAU/DPA ?? Die perfekte Pose: Die roten Telefonzel­len in London sind bei Touristen ein beliebtes Fotomotiv.
FOTO: STEFAN ROUSSEAU/DPA Die perfekte Pose: Die roten Telefonzel­len in London sind bei Touristen ein beliebtes Fotomotiv.

Newspapers in German

Newspapers from Germany