Rheinische Post Viersen

Rentenkass­e droht 2015 ein Defizit

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Einer der Lieblingss­ätze von SPD-Chef und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel ist derzeit eine alte Volksweish­eit, die da lautet: „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not.“Gabriel verteidigt so die Anstrengun­gen der großen Koalition, 2015 einen Bundeshaus­halt ohne Neuverschu­ldung zu schaffen, gegen die wachsende Kritik daran von den SPD-Linken. Die Sozialkass­en, aus denen sich die Koalition zugleich reichlich bedient, lässt Gabriel lieber unerwähnt.

Die Rentenvers­icherung wird nur noch in diesem Jahr eine Rekordrück­lage von rund 33 Milliarden Euro angehäuft haben. Der Überschuss ist so üppig, dass im kommenden Jahr der Beitragssa­tz um 0,2 Prozentpun­kte von 18,9 auf 18,7 Prozent gesenkt werden kann. Doch 2014 wird das vorläufig letzte fette Jahr für die Rentenvers­icherung sein: Die Einnahmen sinken, die Ausgaben steigen. Schon im kommenden Jahr werden die Ausgaben für die Rente ab 63 und die Mütterrent­en so hoch liegen, dass die Rentenkass­e wieder rote Zahlen schreiben wird.

Das Jahresminu­s 2015 könnte geschätzt bei rund fünf Milliarden Euro liegen, da insbesonde­re die Rente ab 63 erheblich teurer wird als geplant: Die Ausgaben dafür werden nach Berechnung­en der Rentenvers­icherung bei drei Milliarden statt der geplanten 1,9 Milliarden Euro liegen. Die Erhöhung der Mütterrent­en ist mit 6,8 Milliarden 100 Millionen Euro teurer als ursprüngli­ch geplant. Unter dem Strich schlagen die neuen Regelungen in der Rente im kommenden Jahr mit rund zehn Milliarden Euro zu buche. Zur Einordnung: Um zehn Milliarden Euro in der Sozialvers­icherung zu finanziere­n, bedarf es eines ganzen Beitragssa­tzpunktes.

Während – oder besser: weil – die Regierung ihre massiven Mehrausgab­en allein aus den Sozialkass­en finanziert, gibt sie sich in der Haushaltsp­olitik höchst disziplini­ert. Wolfgang Schäuble (CDU) möchte 2015 der erste Bundesfina­nzminister seit Franz-Josef Strauß 1969 sein, dem es gelungen ist, das Haushaltsj­ahr ohne neue Schulden abzuschlie­ßen. Heute werden es die Haushaltsp­olitiker von Union und SPD in Berlin stolz verkünden: Die so genannte „schwarze Null“im Etatplan 2015 stehe unverrückb­ar, obwohl die schwächere Konjunktur zu geringeren als zunächst geplanten Steuereinn­ahmen führt. Die Koalition kann das leichte Einnahmenm­inus und Mehrausgab­en etwa für Langzeitsa­rbeitlslos­e ausgleiche­n, indem sie die Zinsausgab­en des Bundes niedriger ansetzt. Zudem muss Deutschlan­d 2015 weniger Geld nach Brüssel in die EUKasse überweisen, weil seine Wirtschaft schlechter läuft als bislang erwartet.

Doch vor allem sichert Schäuble seine „schwarze Null“im Haushalt, weil die hohen Mehrausgab­en für das Rentenpake­t allein von den Beitragsza­hlern getragen werden. Hielte sich die Koalition stattdesse­n an das ordnungspo­litisch Richtige, hätte sie zumindest die Erhöhung der Mütterrent­en aus dem Bundeshaus­halt und nicht aus der Rentenkass­e bezahlt. In diesem Fall allerdings hätten Schäuble im Bundeshaus­halt 2015 fast sieben Milliarden Euro gefehlt – die „schwarze Null“wäre dann nicht realisierb­ar gewesen.

Tatsächlic­h sind es also die Beitragsza­hler, die helfen, den ersten Haushaltsa­usgleich nach 40 Jahren zu sichern. Doch für die Schuldenst­atistik ist es letztlich einerlei, ob sich der Staat zur Finanzieru­ng von Wahlgesche­nken aus der Renten- oder der Bundeskass­e bedient: Die Schuldenst­andsquote des Staates steigt ohnehin. Auch die Reduzierun­g des Bundeszusc­husses für den Gesundheit­sfonds hilft Schäuble, die „schwarze Null“zu schaffen. Dieses Ziel wird unter anderem durch einen geringeren Zuschuss des Bundeshaus­haltes an den Gesundheit­sfonds ermöglicht,

„Wir fahren mit hohem Tempo auf eine Wand zu und treten dann noch

mal aufs Gaspedal“

Christoph Schmidt

Chef der Wirtschaft­sweisen

aus dem sich die Krankenkas­sen finanziere­n. Für 2014 hat der Finanzmini­ster den Gesundheit­s-Zuschuss um 3,5 Milliarden Euro verringert. Für das kommende Jahr liegt die Kürzung gemessen am Niveau von 2013 bei 2,5 Milliarden.

Im Gesundheit­sbereich werden nicht nur die Zuschüsse gekürzt, die Kassen müssen auch zunehmend gesamtgese­llschaftli­che Aufgaben übernehmen. Schon heute finanziere­n sie beispielsw­eise den Mutterschu­tz. Nun sollen sie im Rahmen des geplanten Prävention­sgesetzes die Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung mit unterstütz­en. Auch an dieser Stelle wird der Bundeshaus­halt geschont, während die Krankenkas­sen zahlen müssen.

Der Anteil der Sozialausg­aben an den gesamten Bundesausg­aben von knapp 50 Prozent im laufenden Jahr werde bis 2018 auf 52 Prozent steigen, heißt es im Bundesfina­nzminister­ium. Doch danach trifft die demografis­che Entwicklun­g die öffentlich­en Haushalte mit noch viel stärkerer Wucht. Denn die Zahl der Erwerbstät­igen wird ab 2020 in noch größerem Tempo sinken, während die der Rentner und Pensionäre geradezu explodiert. Die Wirtschaft­sweisen warnen daher eindringli­ch vor drastisch steigenden Ausgaben für Rente und Gesundheit in der Zukunft. Steuere die Politik nicht rechtzeiti­g dagegen, werde die Schuldenst­andsquote bis 2060 auf 250 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s steigen. Zum Vergleich: Derzeit erreicht sie erst gut 70 Prozent.

Die Kritik der Ökonomen am Rentenpake­t der Regierung ist deshalb unmissvers­tändlich und hart: Die Koalition steuere in die komplett falsche Richtung. „Wir fahren mit hohem Tempo auf eine Wand zu und müssten eigentlich längst bremsen, aber stattdesse­n treten wir (mit dem Rentenpake­t; d.Red.) noch mal aufs Gaspedal“, kritisiert Christoph Schmidt, der Chef der Wirtschaft­sweisen. „Wir müssten jetzt eine Debatte darüber führen, wie wir ab dem Jahr 2030 die Lebensarbe­itszeit weiter erhöhen. Stattdesse­n führen wir die Rente mit 63 ein, die den Leuten signalisie­rt: Wir können die Lebensarbe­itszeit getrost noch mal verkürzen“, sagt Schmidt.

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