Ringen um Leben und Tod
BERLIN „Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus“, notieren die Stenografen an diesem Morgen schon sehr früh. Und dann immer wieder. Sogar bei Reden der Linken, die im normalen parlamentarischen Geschäft vom Rest geschnitten werden. Aber an diesem Vormittag ist nichts normal im Bundestag. Es geht nicht um Nuancen und Nachbesserungen. Es geht um Leben und Tod. Und deshalb stützen sich die Abgeordneten auch nicht auf Spiegelstriche und Paragrafen, sondern versammeln sich zum Auftakt des Ringens um die Zukunft der Sterbehilfe erstmals zu einer „Orientierungsdebatte“.
Weil der Verlust Angehöriger ganz tief in die Lebenserfahrung jedes Einzelnen einschneidet, suchen die Abgeordneten auch nicht Orientierung bei politischen Theorien. Sondern bei Bildern und Gefühlen. „Wer einmal den Todeskampf eines Menschen miterlebt hat, dem bleibt das ins Gedächtnis eingebrannt“, sagt Peter Hintze (CDU). Er ist nicht nur Bundestagsvizepräsident. Er arbeitete auch als Pfarrer. Und vor diesem Erfahrungshintergrund hält er es für „unvereinbar mit dem Gebot der Menschenwürde, wenn aus dem Schutz des Lebens ein Zwang zum Qualtod würde“.
Petra Sitte von den Linken berichtet vom Sterbenwollen ihres Vaters und der Hilflosigkeit von Ehefrau und Tochter gegenüber einem tiefunglücklichen Mann: „Das war über Tage eine elende Quälerei, und er hat sich seinen Tod ertrotzt.“Ihre Frage steht lange im Raum: „Selbstbestimmt zu sterben durch Verhungern und Verdursten, weil es unsere Moralvorstellungen und Gesetze nicht anders zulassen, ist das nicht erbarmungslos?“
Ihre Fraktionskollegin Kathrin Vogler indes treibt eine andere Furcht um. Denn sie hat das Video vom „Beratungsgespräch“eines Sterbehilfevereins gesehen. Darin versichert eine junge Frau einem alten Mann immer wieder, dass seine Entscheidung zu sterben richtig sei. Vorsichtige Zweifel wischt sie resolut beiseite. „Die sogenannte Beraterin will offenbar ganz dringend zu einem Abschluss kommen“, sagt Vogler und verweist auf die für die Begleitung fälligen Beträge zwischen 1000 und 7000 Euro. Und deshalb erntet die Politikerin großen Beifall für ihre Bekundung: „Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen ihren Le-
INTERVIEW YASMIN FAHIMI
bensunterhalt daraus gewinnen, anderen den Tod zu bringen.“
Das Schicksal seines krebskranken Vaters vor Augen, wirbt der CDU-Abgeordnete Michael Brand für den Ausbau der Palliativmedizin. „Diese Begleitung nimmt Schmerz, Angst und Druck und bewahrt die Würde.“Das weiß er aus eigener Erfahrung: „Krankheit und Tod waren bei uns zu Hause immer mit am Tisch.“Leidenschaftlich warnt er davor, eine Tür zu öffnen, „die wir nicht mehr zubekommen, und durch die am Ende Menschen geschoben werden können, die nicht durch diese Tür wollen“. Er verweist auf das Beispiel Belgien, wo das „Euthanasiegesetz“inzwischen 25 Mal geändert worden sei und scheibchenweise immer mehr Gruppen von Sterbehilfe erfasst habe, „selbst Kinder und Demenzkranke“.
Die Orientierungsdebatte zeigt, dass die meisten Abgeordneten noch unentschieden sind. Es zeigen sich aber Trends: Eine breite Mehrheit will im Bundestag die organisierte und die gewerbliche Sterbehilfe verbieten. Die Praxis, dass Vereine den assistierten Suizid anbieten, soll es in Zukunft also nicht mehr geben. Bei weiteren gesetzlichen Regelungen ist die Mehrheit skeptisch. Am Rande bekennen viele, dass sie so wenig wie möglich in die bisherige Gesetzeslage eingreifen wollen. Das hieße, dass für Ärzte und für Angehörige Freiräume in ethischen Grenzbereichen bestehen blieben. Konsens ist unter der Mehrheit der Abgeordneten auch, dass die Palliativmedizin verbessert werden muss. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat dazu schon ein neues Konzept vorgelegt. Bis Februar sollen aus den bisherigen Positionen Gesetzesentwürfe werden. Die Entscheidung im Bundestag ist für den Herbst 2015 geplant.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann unterstreicht, wie richtig es ist, sich für die Entscheidung ein Jahr Zeit zu nehmen. Es gelte, sehr sorgfältig zu diskutieren. Zudem sei die Debatte „auch für sich wertvoll“, denn sie helfe „ganz vielen Menschen, ein so schwieriges Thema wie Suizid jetzt offener anzusprechen“. Fast 50 Abgeordnete steuern zum Start ihre Überzeugungen und ihre auch sehr aufwühlenden Erlebnisse mit sterbenden Angehörigen bei. Sie bestätigen damit die Einschätzung von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) vom „vielleicht anspruchsvollsten Gesetzgebungsprojekt“der gesamten Wahlperiode.