Rheinische Post Viersen

Ringen um Leben und Tod

- VON GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN „Beifall bei Abgeordnet­en im ganzen Haus“, notieren die Stenografe­n an diesem Morgen schon sehr früh. Und dann immer wieder. Sogar bei Reden der Linken, die im normalen parlamenta­rischen Geschäft vom Rest geschnitte­n werden. Aber an diesem Vormittag ist nichts normal im Bundestag. Es geht nicht um Nuancen und Nachbesser­ungen. Es geht um Leben und Tod. Und deshalb stützen sich die Abgeordnet­en auch nicht auf Spiegelstr­iche und Paragrafen, sondern versammeln sich zum Auftakt des Ringens um die Zukunft der Sterbehilf­e erstmals zu einer „Orientieru­ngsdebatte“.

Weil der Verlust Angehörige­r ganz tief in die Lebenserfa­hrung jedes Einzelnen einschneid­et, suchen die Abgeordnet­en auch nicht Orientieru­ng bei politische­n Theorien. Sondern bei Bildern und Gefühlen. „Wer einmal den Todeskampf eines Menschen miterlebt hat, dem bleibt das ins Gedächtnis eingebrann­t“, sagt Peter Hintze (CDU). Er ist nicht nur Bundestags­vizepräsid­ent. Er arbeitete auch als Pfarrer. Und vor diesem Erfahrungs­hintergrun­d hält er es für „unvereinba­r mit dem Gebot der Menschenwü­rde, wenn aus dem Schutz des Lebens ein Zwang zum Qualtod würde“.

Petra Sitte von den Linken berichtet vom Sterbenwol­len ihres Vaters und der Hilflosigk­eit von Ehefrau und Tochter gegenüber einem tiefunglüc­klichen Mann: „Das war über Tage eine elende Quälerei, und er hat sich seinen Tod ertrotzt.“Ihre Frage steht lange im Raum: „Selbstbest­immt zu sterben durch Verhungern und Verdursten, weil es unsere Moralvorst­ellungen und Gesetze nicht anders zulassen, ist das nicht erbarmungs­los?“

Ihre Fraktionsk­ollegin Kathrin Vogler indes treibt eine andere Furcht um. Denn sie hat das Video vom „Beratungsg­espräch“eines Sterbehilf­evereins gesehen. Darin versichert eine junge Frau einem alten Mann immer wieder, dass seine Entscheidu­ng zu sterben richtig sei. Vorsichtig­e Zweifel wischt sie resolut beiseite. „Die sogenannte Beraterin will offenbar ganz dringend zu einem Abschluss kommen“, sagt Vogler und verweist auf die für die Begleitung fälligen Beträge zwischen 1000 und 7000 Euro. Und deshalb erntet die Politikeri­n großen Beifall für ihre Bekundung: „Ich möchte nicht in einer Gesellscha­ft leben, in der Menschen ihren Le-

INTERVIEW YASMIN FAHIMI

bensunterh­alt daraus gewinnen, anderen den Tod zu bringen.“

Das Schicksal seines krebskrank­en Vaters vor Augen, wirbt der CDU-Abgeordnet­e Michael Brand für den Ausbau der Palliativm­edizin. „Diese Begleitung nimmt Schmerz, Angst und Druck und bewahrt die Würde.“Das weiß er aus eigener Erfahrung: „Krankheit und Tod waren bei uns zu Hause immer mit am Tisch.“Leidenscha­ftlich warnt er davor, eine Tür zu öffnen, „die wir nicht mehr zubekommen, und durch die am Ende Menschen geschoben werden können, die nicht durch diese Tür wollen“. Er verweist auf das Beispiel Belgien, wo das „Euthanasie­gesetz“inzwischen 25 Mal geändert worden sei und scheibchen­weise immer mehr Gruppen von Sterbehilf­e erfasst habe, „selbst Kinder und Demenzkran­ke“.

Die Orientieru­ngsdebatte zeigt, dass die meisten Abgeordnet­en noch unentschie­den sind. Es zeigen sich aber Trends: Eine breite Mehrheit will im Bundestag die organisier­te und die gewerblich­e Sterbehilf­e verbieten. Die Praxis, dass Vereine den assistiert­en Suizid anbieten, soll es in Zukunft also nicht mehr geben. Bei weiteren gesetzlich­en Regelungen ist die Mehrheit skeptisch. Am Rande bekennen viele, dass sie so wenig wie möglich in die bisherige Gesetzesla­ge eingreifen wollen. Das hieße, dass für Ärzte und für Angehörige Freiräume in ethischen Grenzberei­chen bestehen blieben. Konsens ist unter der Mehrheit der Abgeordnet­en auch, dass die Palliativm­edizin verbessert werden muss. Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) hat dazu schon ein neues Konzept vorgelegt. Bis Februar sollen aus den bisherigen Positionen Gesetzesen­twürfe werden. Die Entscheidu­ng im Bundestag ist für den Herbst 2015 geplant.

SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann unterstrei­cht, wie richtig es ist, sich für die Entscheidu­ng ein Jahr Zeit zu nehmen. Es gelte, sehr sorgfältig zu diskutiere­n. Zudem sei die Debatte „auch für sich wertvoll“, denn sie helfe „ganz vielen Menschen, ein so schwierige­s Thema wie Suizid jetzt offener anzusprech­en“. Fast 50 Abgeordnet­e steuern zum Start ihre Überzeugun­gen und ihre auch sehr aufwühlend­en Erlebnisse mit sterbenden Angehörige­n bei. Sie bestätigen damit die Einschätzu­ng von Bundestags­präsident Norbert Lammert (CDU) vom „vielleicht anspruchsv­ollsten Gesetzgebu­ngsprojekt“der gesamten Wahlperiod­e.

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