Lendenwirbel-Tatoo und „Hohes Haus“
Ich bin immer noch hin- und hergerissen, wenn ich an Wolf Biermanns für einen Gast besonders dreiste Regelverletzung vor einer Woche im Bundestag denke; und daran, dass der Präsident des einstmals gern „Hohes Haus“genannten Parlaments dafür am Ende ein billigendes Schmunzeln übrig hatte. Man möchte Norbert Lammert zurufen: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie waren feige!“
Eine Woche ist vergangen, seit sich die einst von den SED-Diktatoren ausgebürgerte DDR-Protestikone Wolf Biermann an seine Klampfe klammerte und die direkt vor ihm verlegen hockende LinksparteiFraktion als „elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden ist“, nach Herzenslust beschimpfte, als sei er auf der Kirmes und nicht im Deutschen Bundestag.
Inhaltlich klang das angesichts der dunklen Linkspartei-Vergangenheit und des Herumdrucksens und Stotterns von Gysi und Genossen bei der Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, erfrischend und belebend. Man dachte: Gut, dass sich ein freier Künstler das Recht herausnimmt, den unbelehrbaren Sozialisten und überwiegend Gestrigen beim Bundestags-Geden-
Wolf Biermann leistete sich eine deftige Regelverletzung im Bundestag. Rüge? Fehlanzeige. Stattdessen billigendes Schmunzeln. Eine Gesellschaft sollte sich nicht aller Formen entledigen.
ken an den Mauerfall vor 25 Jahren kräftig die Köpfe zu waschen. Oder war es nicht doch richtiger, starker Tobak am falschen Ort? Soll man im ersten Haus der Republik pöbeln dürfen, ohne dass einem das Mikrophon abgestellt oder man des Saales verwiesen wird?
Bärbel Reinke, eine der kleinen ostdeutschen Heldinnen vom großen Abend des 9. November 1989, ist das, was man gemeinhin eine einfache, wackere Frau mit Lebenserfah- rung und Sinn für Anstand nennt. Als „die Frau vom Brandenburger Tor“am vergangenen Sonntag in Günter Jauchs Fernsehrunde gefragt wurde, was sie von der Biermann-Show im Bundestag halte, antwortete sie: Sie sei weiß Gott keine Linke, das jedoch, was sich „dieser Sänger“erlaubt habe, das gehe ihr zu weit, der Bundestag sei schließlich kein Kabarett.
Klaus von Dohnanyi, ein Grandseigneur der SPD, sagte einmal, er fände es schade, dass heute vieles einer schlaksigen Welt geopfert werde. Die Gesellschaft sollte sich nicht aller Formen entledigen. Dazu diese Bemerkung: Wenn sogar der Bundestag billigend in Kauf nimmt, dass ein Gast vorsätzlich seine Manieren ablegt und ungerügt Regelverletzung mit Ankündigung betreiben darf, warum soll man dann einem jungen Parlamentsbesucher auf der Plenarsaal-Tribüne Brötchen-Essen und Pfeifen verbieten? Es fing an mit der Verletzung der Kleiderordnung im Parlament nach dem Einzug der Grünen-Fraktion 1983. Irgendwann wird uns eine Abgeordnete ihr Lendenwirbel-Tatoo präsentieren.