Rheinische Post Viersen

Ukraine verzichtet auf eine Offensive im Osten

Der ukrainisch­e Außenminis­ter spricht über eine militärisc­he Rückerober­ung besetzter Gebiete und über weitere Hilfen aus dem Westen.

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In der Ost-Ukraine brechen immer wieder Gefechte aus. Ist die Waffenruhe nicht längst gescheiter­t?

KLIMKIN Es stimmt, wir haben keinen haltbaren Waffenstil­lstand. An uns liegt das nicht. Wir versuchen, militärisc­he Auseinande­rsetzungen zu vermeiden, aber dazu gehören natürlich immer beide Seiten. Die Terroriste­n in Donezk und Lugansk müssen sich endlich an den Waffenstil­lstand halten – und mit ihnen die russischen Kämpfer, die sie unterstütz­en. Die am 2. November entgegen allen Abmachunge­n durchgefüh­rten Pseudo-Wahlen in den von den Terroriste­n kontrollie­rten Gebieten haben die Lage leider erneut verschärft. Sie waren der klare Versuch, alle bisher erreichten Vereinbaru­ngen zunichte zu machen. Aufgrund dieser Wahlen droht jetzt ein dauerhaft schwelende­r Konflikt.

Wäre die ukrainisch­e Armee einer erneuten Offensive der Separatist­en überhaupt gewachsen?

KLIMKIN Sie dürfen den Zustand unserer Truppen nicht mit der Situation vor einem Jahr vergleiche­n. Da gab es eigentlich gar keine ukrainisch­e Armee mehr, die hatte die vorherige Regierung systematis­ch kaputt gemacht. In den letzten Monaten hat sich da vieles verbessert. Wir verfügen jetzt über Tausende Soldaten, die kämpfen können und das auch schon bewiesen haben. Ich bin sicher: Wenn es nötig werden sollte, könnten diese Einheiten effektiv gegen die von russischen Soldaten unterstütz­ten Terroriste­n vorgehen.

Die Durchführu­ng von Wahlen durch die Separatist­en war ein klarer Verstoß gegen das Abkommen von Minsk. Fühlen Sie sich trotzdem weiter daran gebunden?

KLIMKIN Ja, wir werden uns weiter an diese Vereinbaru­ng halten, denn sie ist bisher unser einziger Ansatzpunk­t, um auf eine Deeskalati­on der Lage hinzuwirke­n. Wir haben im Übrigen unseren Teil dieser Abmachung bisher in allen Punkten erfüllt. Leider kann man von den Russen und den Terroriste­n nicht dasselbe sagen. Wir machen uns zum Beispiel große Sorgen um 500 Geiseln, die dort weiter unter schlimmen Bedingunge­n festgehalt­en werden, und deren Freilassun­g wir so schnell wie möglich erreichen wollen.

Müssen die Sanktionen gegen Russland angesichts der sich zuspitzend­en Lage weiter verschärft werden?

KLIMKIN Die Sanktionen sind sehr wichtig, aber noch wichtiger wäre, dass die EU aufgrund einer gemeinsame­n Position politische­n Druck auf Russland ausübt. Der Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts liegt in Moskau. Ich hoffe sehr, dass die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs sowie US-Präsident Barack Obama die Gelegenhei­t beim G20Gipfel am Wochenende in Australien nutzen, um dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin diese Botschaft persönlich und mit Nachdruck zu übermittel­n.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat zusätzlich­e Wirtschaft­ssanktione­n gegen Russland zunächst einmal ausgeschlo­ssen.

KLIMKIN Wie gesagt, wir dürfen nicht immer nur auf die Sanktionen schauen. Wir wünschen uns eine stimmige Gesamtstra­tegie der EU. In der kommenden Woche werden die EU-Außenminis­ter erneut über die Lage in meinem Land beraten. Dabei wird es um sämtliche zur Verfügung stehenden Möglichkei­ten gehen, um Druck für ein Ende der Gewalt und eine friedliche Lösung des Konflikts zu machen.

Sie haben unlängst erklärt, die Ukraine werde sich die besetzten Gebiete zurückhole­n. War damit ein Militär-Einsatz gemeint?

KLIMKIN Nein, es geht dabei um eine politische Lösung. Eine militärisc­he Offensive würde doch auch die Zivilbevöl­kerung in Mitleidens­chaft ziehen, unsere ukrainisch­en Landsleute. Deren Lage ist ohnehin schon schlimm genug. Die wirtschaft­liche Lage in Lugansk und Donezk ist schlecht und wird sich weiter verschlech­tern. Wir versuchen, so viel humanitäre Hilfe wie möglich dorthin zu bringen, und wir haben die nicht ganz einfache Entscheidu­ng getroffen, weiterhin Strom und Gas zu liefern, obwohl diese Lieferunge­n nicht bezahlt werden. Aber wir können die Menschen schließlic­h nicht einfach im Stich lassen.

Braucht die Ukraine zusätzlich­e Hilfe aus dem Westen?

KLIMKIN Ja, das wäre sehr wichtig. Wir versuchen gerade den Umfang eines zusätzlich­en Hilfspaket­s zu beziffern. Im Osten der Ukraine liegen unsere industriel­len Zentren, und wir bekommen zum Beispiel derzeit keine Kohle aus den dort betriebene­n Bergwerken mehr. Wir müssen sie jetzt im Ausland kaufen, das ist eine gewaltige zusätzlich­e Belastung. Aber ich möchte klarstelle­n, dass wir von unserer Seite auch alles tun werden, um solche Hilfen zu rechtferti­gen. Wir wollen tiefgreife­nde Reformen in Staat und Wirtschaft durchsetze­n, damit das Geld nicht versickert.

Wie ist die Lage auf der von Russland annektiert­en Halbinsel Krim?

KLIMKIN Wir werden nie aufhören, mit allen politische­n und rechtliche­n Mitteln um die Krim zu kämpfen. Sie ist ebenso ukrainisch wie Donezk oder Lugansk. Auch auf der Krim hat sich die wirtschaft­liche und soziale Lage verschlech­tert. Internatio­nale Organisati­onen weisen auf zahlreiche Verletzung­en der Menschenre­chte hin. Betroffen davon sind vor allem Ukrainer und Krim-Tataren. Wir werden helfen, wo wir können. Trotzdem müssen die internatio­nalen Sanktionen, die Investitio­nen auf der Krim verbieten, strikt beachtet werden. MATTHIAS BEERMANN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: PHOTOTEK Der ukrainisch­e Außenminis­ter Pawlo Klimkin (46) im Juni dieses Jahres nach einer Sitzung des Rats für Außenbezie­hungen in Luxemburg.

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