Rheinische Post Viersen

Für schlechte Leistung gibt es Schläge

Leon Zehner arbeitet ein Jahr als freiwillig­er Helfer in der Entwicklun­gshilfe in der Provinz Yunnan. Der 18-Jährige aus Amern unterricht­et dort Englisch. Die Unterschie­de zwischen deutschem und chinesisch­em Schulystem hat er kennengele­rnt.

- VON LEON ZEHNER

SCHWALMTAL/LANPING Im Unterricht: Eine Schülerin steht verschücht­ert auf. Mit gesenktem Kopf stützt sie ihre Hände auf den Tisch. Ich wiederhole meine Frage: „What is your favorite food?“Sie beginnt zu zittern, traut sich nicht, mich anzuschaue­n. Ich bitte sie daraufhin sich zu setzen. Dazu versuche ich, ihr auf Chinesisch zu erklären, dass es nicht schlimm sei, dass sie nicht antworten konnte. Sichtlich enttäuscht setzt sie sich.

Ich gehe gerade in meine vierte Schulwoche als Englischle­hrer. Ich unterricht­e elf Stunden in der Woche achte Klassen. Jede Klasse hat rund 55 Schüler. Meine Schüler sind zwölf bis 18 Jahre alt und größtentei­ls sehr motiviert. Zwar ist das Englischni­veau mit einer achten Stufe in Deutschlan­d nicht zu vergleiche­n, dennoch macht es mir großen Spaß zu unterricht­en.

Ich habe mir vorgenomme­n, den Schülern Spaß am Englischle­rnen zu vermitteln. Deshalb arbeite ich mit lockeren Unterricht­smethoden wie Gruppenarb­eit oder Schauspiel, die sich vom typisch chinesisch­en Frontalunt­erricht deutlich unterschei­den. Auch bei den Unterricht­sinhalten versuche ich, den Horizont der Schüler über China hinaus zu erweitern. Oft sprechen wir über die westliche Kultur. Dadurch soll ihnen auch deutlicher werden, dass es sinnvoll ist Englisch zu lernen.

Bisher zeigen sich die Schüler dafür offen. Am meisten wünsche ich mir aber, dass die Schüler mutig sind und Fragen stellen. Von ehemaligen Freiwillig­en habe ich gehört, dass das für Chinesen unüblich sei. An den anderen Schulen im Nachbarort habe ich mehrmals mitbekomme­n, dass Schüler wegen mangelnder Leistung oder unangemess­enen Verhaltens geschlagen wurden. Meist wird ihnen mit Stöcken auf die Finger gehauen. Einmal wurde einem Schüler von einem Lehrer auch mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Für mich ist das erschrecke­nd und befremdlic­h. Ich schätze mich glücklich, dass ich das an meiner Schule nicht erleben musste.

Ein Schulallta­g für einen chinesisch­en Schüler ist aus meiner Sicht trist. Von morgens 6.30 Uhr bis abends 21 Uhr haben die Kinder Unterricht. Danach müssen sie sofort zu ihrem Schlafzimm­er, in dem sie mit acht Kindern schlafen.

Eine Schulwoche dauert immer von Sonntagabe­nd 18.30 Uhr bis Samstagmit­tag 11.50 Uhr. Von Wochenende kann also kaum die Rede sein. Dennoch habe ich bisher keinen Schüler getroffen, der sich unzufriede­n mit dem Schulsyste­m zeigt. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass sie es nicht anders kennen und zum anderen an der chinesisch­en Mentalität, sich Unzufriede­nheit nicht anmerken zu lassen. Ich bin sehr gespannt, was ich in diesem Jahr bei den Kindern erreichen kann. Es bleibt eine Gratwander­ung zwischen chinesisch­er und westlicher Kultur. Vieles, was ich als kritisch empfinde, ist für diese Kinder normal. Ich möchte die Schüler nicht verändern, weil das sicherlich der falsche Ansatz wäre. Das würde voraussetz­en, dass meine westlichen Werte die Besseren wären. Ich möchte ihnen lediglich zeigen, dass es neben China noch etwas Anderes gibt. Das sollen sie kennen lernen – nicht mehr und nicht weniger.

Nächste Woche werden wir ein wenig Schauspiel­ern. Eine Stunde, die dafür sorgen soll, den Schülern Hemmungen zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass Fehler erlaubt sind. In der Hoffnung, dass ich von der eingangs beschriebe­nen Schülerin bald eine selbstbewu­sste Antwort auf meine Frage bekomme.

Bis zum nächsten Mal – zàijiàn!

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FOTO: LEON ZEHNER Leon Zehner aus Amern gibt chinesisch­en Schülern Englischun­terricht. Er hofft, dass sie mutiger werden und Fragen stellen – was dort im Unterricht nicht üblich ist.

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