Wie nah sind uns unsere Nachbarn?
In Hochhäusern leben Menschen nah beieinander – und kennen sich häufig gar nicht. Für sein Projekt „Wir - ein Gruppenfoto“brachte der Konzeptkünstler Norbert Krause diejenigen zusammen, die Tür an Tür wohnen.
VIERSEN „Unsre Wände sind so dünn wie Haut,/ daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine,/ Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle .../ Und wie still in dick verschloßner Höhle/ ganz unangerührt und ungeschaut/ steht ein jeder fern und fühlt: alleine.“So endet das Gedicht „Städter“des Lyrikers Alfred Wolfenstein, der damit 1914 das Leben in der Stadt beschrieb. Eng beieinander wohnen die Menschen. Die Wände ihrer Wohnungen sind so dünn, dass jeder hört, was nebenan passiert. Und obwohl die Menschen einander so nahe sind, sind sie sich fern. Das Gedicht mündet in dem einen Wort, das beschreibt, wie sich der Einzelne fühlt: alleine.
Je enger wir zusammen wohnen, desto weniger kennen wir uns. Ein Paradoxon, das der Mönchengladbacher Konzeptkünstler Norbert Krause zum Anlass genommen hat, sich künstlerisch mit dem Leben in einem Hochhaus auseinander zu setzen. Dafür hat er versucht, die Menschen, die in einem Hochhaus wohnen, für ein gemeinsames Gruppenfoto zusammenzubringen. Unter dem Titel „Wir – ein Gruppenfoto“stellt er die Ergebnisse seines Projekts nun in Viersen aus.
Mit der Idee, ein Gruppenfoto der Hochhaus-Bewohner zu machen, habe er einen Gegenpol zu dem oft anonymen Wohnen setzen wollen, erläutert Krause: „Ein Gruppenfoto macht man normalerweise am Ende einer Veranstaltung, am Ende einer Reise oder einer Hochzeit. Hier kann das Gruppenfoto der Anfang einer Reise der Hausgemeinschaft zueinander sein.“
Im Sommer besuchte der Künstler je ein Hochhaus in Viersen, Mönchengladbach, Moers und Neuss. Einen Tag lang setzte er sich mit Campingstuhl und Sonnenschirm vor das Haus, kam mit den Bewohnern ins Gespräch und lud sie zum Fototermin ein. Dabei hatte er manch nette Begegnung: In Viersen luden ihn die Kinder an der Berliner Höhe ein, mit ihnen Fußball zu spielen, in Mönchengladbach brachte eine Frau Frikadellen zum Fototermin mit.
Mitunter erzählten ihm die Bewohner auch, dass sie es schön fänden, wenn es mehr Gemeinschaft im Haus geben würde, aber dass sie nicht wüssten, wie sich das umsetzen ließe. Krause hofft, dass vielleicht das Gruppenfoto dazu einen Anstoß geben kann.
In keiner Stadt wollten alle Bewohner eines Hauses aufs Foto – oder hatten Zeit dafür. Zwischen sieben Prozent der Bewohner (in Neuss) und 30 Prozent (in Mönchengladbach) machten mit. In dem Viersener Hochhaus wohnen etwa 50 Menschen – 15 kamen zum Fototermin zusammen. Alle, die mitmachten, erhielten gleich nach dem Fototermin einen Abzug des Gruppenfotos.
In einem zweiten Schritt fotografierte Krause alle Wohnungstüren in dem jeweiligen Hochhaus. Weil er die Türen durch ein sogenanntes Fischauge fotografierte, sieht es aus, als habe der Fotograf durch den Türspion geguckt. Die Türen verraten nicht viel über das Leben, das in der Wohnung stattfindet. Der eine versuche, sich den Eingang zur Wohnung schön zu machen, etwa mit einer zur Jahreszeit passenden Dekoration, der andere sehe es praktisch und stelle einen Schuhschrank in den Flur, hat Krause festgestellt. Wer durch die Kladden blättert, die Krause für die Ausstellung angefertigt hat, sieht: Vor der einen Tür stehen Schuhe, an der nächsten Tür hängt ein Kranz. Eine Fußmatte zeigt den Schriftzug „Home“– hier fühlt sich jemand zu Hause. Für den Künstler sind die Bilder der Wohnungstüren spannend – und zwar deshalb, weil der Bereich der Fußmatte die Schwelle zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum markiert. „Wie nutze ich diese paar Zentimeter?“, fragt Krause.
Der Künstler selbst nutzt diese paar Zentimeter für seine Wasserkästen, wie er schmunzelnd erzählt. Krause, Jahrgang 1980, wohnt in einem Mehrfamilienhaus im Mönchengladbacher Stadtteil Eicken. Weit draußen ohne Nachbarn zu wohnen, das kann sich Krause nicht vorstellen: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann würde ich gern auf einem alten Bauernhof wohnen – aber mitten in der Stadt, zusammen mit Freunden und Familie.“